Aus Politische Berichte Nr. 7/2018, S.18 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Zerbricht die Union von CDU und CSU?

Dr. Harald Pätzolt, Berlin

Mit gemischten Gefühlen sehen sich die Menschen in Deutschland und anderswo als Zuschauer eines politischen Spektakels mit offenem Ende. Selbst Donald Trump muss tatenlos Zusehen. Der Plot ist schnell beschrieben: Markus Söder, Ministerpräsident des Freistaates Bayern, beauftragt seinen Bundesinnenminister Seehofer, demonstrativ die Merkelsche Flüchtlingspolitik zu beenden und die „Kontrolle der deutschen Grenzen wiederherzustellen“. Getreu des Straußschen Diktums „Keine Partei rechts von der CSU“ will er so die AfD kleinhalten. Bayern steht vor der Landtagswahl. Horst Seehofer kam die geforderte Machtdemonstration gegen die Kanzlerin gerade recht, für ihn spaltet Merkel das Land und kann eigentlich weg. Angela Merkel versucht, den Angriff zu nutzen, um Druck auf die europäischen Partner zu machen, eine europäische Lösung der Flüchtlingsfrage zu erreichen. Gelänge ihr dies, wäre ihre Kanzlerschaft gefestigt. In der Sache geht es der CDU wie der CSU um eine Abwehr von Flüchtlingen, zuerst an Europas Außengrenzen, dann an Deutschlands Grenzen. Das Schauspiel ordnet sich in eine länger andauernde Auseinandersetzung „über die Grundausrichtung der Politik. National oder europäisch, autoritär oder liberal“ (Robert Habeck) ein.[1]

Kulturkampf in der Union

Habeck bestätigt damit unsere Analyse vom Anfang März des Jahres: „Die autoritäre Fronde, europaweit marschierend, in Deutschland in Gestalt der AfD politisch präsent, ist, trotz vielen Feldgeschreis in und außerhalb der Parlamente, noch in Wartestellung. Sie wartet darauf, fortschreitende Prozesse zunehmend autoritärer Regulierung wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Veränderungen, von der Bevölkerung mit gewünschter Veränderungslosigkeit zitternd beschworen, begleitet, politisch finalisieren, vollstrecken zu können. Der Weg ginge von der liberalen Demokratie hin zur Mehrheitsdemokratie, bayerisch-ungarische Verhältnisse werfen ihre Schatten nach Norden und Osten unserer Republik. Das hat alles eine Geschichte, wir erinnern uns, dass die guten Sachsen ihren Landesvater Kurt Biedenkopf schon zu Lebzeiten zu vergolden suchten; wie ihren August, der als goldener Reiter Dresden ziert.“[2]

Die CSU scheint geschlossen hinter Söder und Seehofer zu stehen, aber das ist nicht der Fall: Wenn Söder die Wahl verliert, wird der liberalere, europäischere Teil der Partei (etwa Ilse Aigner, auch CSU-Vize Manfred Weber) seinen Kopf fordern und den Versuch einer Koalition mit den Grünen wagen wollen. Das Unbehagen gegen Söder und Dobrindt speist sich aus vielen Quellen. Der Audi-Chef Stadler sitzt in U-Haft. Der Bundesverkehrsminister hatte sich mit der Maut beschäftigt, die Krise der bayerischen Automobilindustrie nicht gemanagt. Auch geht bei in der Wirtschaft die Sorge um, dass Bayern wegen der Automobilkrise durchaus wirtschaftlich bald wieder auf Hilfe des Bundes angewiesen sein könnte. Das wird Dobrindt persönlich und seinem Klüngel als Staatsversagen angehängt.

Korruptionsfälle im Freistaat brachten aktuell Top-Leute der CSU, aber auch der SPD (so den CSU-Landtagsabgeordneten Franz Rieger, Ex-CSU-Kandidat Christian Schlegl oder den suspendierten SPD-OB von Regensburg) ins Visier der Staatsanwaltschaft. Es gärt also in der CSU.

Krise des Parteiensystems

Im Ergebnis der Bundestagswahl im Herbst 2017 war das deutsche Parteiensystem nach den Kriterien der Parteienforschung instabil geworden. Nicht nur der Eintritt der AfD in den Bundestag, auch die dramatischen Verluste der Union, der erneute Tiefstand der SPD, die den Wahlkampf prägende „kulturalistische Spaltungslinie“[3] um die Flüchtlingsfrage herum begründeten diesen Befund.

Im „Spiegel“ wird das Ende des Parteiensystems, das die Bundesrepublik fast 70 Jahre lang prägte, befürchtet und Merkel und Seehofer vorgeworfen, den Wert eines stabilen Parteiensystems gering zu schätzen.[4] Es wäre zu ergänzen, dass auch die SPD „toxisch“ ist; mit ihrem Verfall wächst der Druck auf die CDU. Die Sozialdemokratie ist in ihrer Schwäche aktuell kein fester Stein, kein Halt gegen das ins Rutschen geratene Parteiensystem.

Es ist keineswegs klar, ob sich das Bündnis von CDU und CSU wieder stabilisieren wird. Dass daraus eine Dynamik politischer Bewegungen, grob vergleichbar mit denen in Frankreich oder Italien entstehen könnte, wird in den Regierungsparteien mit Sorge wahrgenommen. Allzu stark scheint das Eigeninteresse der Parteikader. Gleichwohl haben sich die kleineren Parteien, FDP, Grüne, auch in Teilen Die Linke, bereits in Richtung Bewegungsparteien orientiert, Wachsen und/oder Sammeln, Personalisieren und Popularisieren liegen eben auch im Trend.

Regierungskrise

Die Kanzlerin wird vom Koalitionspartner offen angegriffen, und es werden in Regierungs- und Parteikreisen Ministerentlassung, Vertrauensfrage, neue Koalitionen und auch Neuwahlen öffentlich diskutiert. Wir haben also eine Regierungskrise. Das wäre die Stunde der Opposition. Diese agiert sehr unterschiedlich: Grüne und FDP sehen das Schauspiel eher gelassen und warten auf ihren Einsatz, sollte es zum Bruch kommen. Die Grünen haben bereits angekündigt, im Falle einer Vertrauensfrage Merkel zu stützen. Die AfD geriert sich als rassistisch-flüchtlingsfeindliches Original zu Söders CSU. Nur Die Linke präsentiert sich gegen die Frontex- und bayerische Grenzpolizei-Mentalität herrschender Politik der anderen Parteien, seien sie in Regierung oder in Opposition, als „Bollwerk der Menschlichkeit“ (D. Bartsch) und kritisiert den „Putschversuch von rechts“ (B. Riexinger).

Krise der EU

Dass in der EU aktuell keine europäische Lösung des Flüchtlingsproblems möglich ist, ist auch eine Krise der EU. Frankreich und Deutschland und einige weitere Staaten bemühen sich um eine multilaterale Lösung, andere Länder Osteuropas agieren eher unilateral – und der Riss geht mit dem Streit zwischen CSU und CDU auch mitten durch die Union und die deutsche Regierung. Merkel versucht es auch bilateral, in Nebenabsprachen mit der Türkei zum Beispiel, und nichts kommt zu einem Ende. Keine der Optionen in der Debatte wäre ein gutes Ende aus linker Sicht, schon gar nicht für die Geflüchteten, deren Chancen auf Asyl dramatisch reduziert werden und/oder in Lagern außerhalb der EU ein elendes Leben fristen müssen.

Jakob Augstein weist auf diese Widersprüche hin: „Was wir Demokratie nennen, brauchte zum Gedeihen die besonderen Bedingungen der Pax Americana – ein waffenstarrendes Dominanzsystem, das den Rest der Welt zum Objekt einer wirtschaftlichen und moralischen Ausbeutungsmaschine machte. Wir haben in einer Gated Community gelebt.“[5]

In Europa findet ein Kulturkampf um die Frage statt, ob und wie Freiheit, Sicherheit und Wohlstand weiterhin gegen Ansprüche der sogenannten Unterschichten in den eigenen Ländern und der Armen weltweit verteidigen wird. Wird das geschehen mit einer Rückkehr zu unilateralen, nationalen Vorgehen oder multilateral und liberal? Oder wird es gelingen – so die linke Utopie und Ziel der linken Politik – diese Kampflinie zu durchkreuzen? Darum ginge es auch bei den kommenden Wahlen zum Europäischen Parlament.

1 zit. nach: Eubel, Cordula: Die Grünen denken über eine Kenia-Koalition nach. In: Tagesspiegel online vom 25.06.2018 2 Pätzolt, Harald: Kulturkampf in der Union. In: Politische Berichte 3/18, S. 18f. 3 Walter, Franz: Libertärer Schein der Lifestyle-Linken. In: Spiegel vom 23.06.2018, S.38f. 4 So im Spiegel vom 23.06.2018, S. 8 und auch S.18 5 Augstein, Jakob: Macht und Missverständnis. In: Spiegel Online vom 25.06.2018