Aus Politische Berichte Nr. 11/2018, S.15 InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Eine wichtige Studie zum Thema Selbständigkeit und Gewerkschaften in der EU

Rüdiger Lötzer, Berlin

„Gewerkschaften unterstützen selbständige Arbeitnehmer. Warum benötigen selbständige Arbeitnehmer bessere Rechte? Was machen die Gewerkschaften? Welche Prioritäten sind für die Zukunft nötig?“ Unter dieser Überschrift hat der Europäische Gewerkschaftsbund eine leider bisher nur in englischer Sprache erschienene Broschüre zur Situation selbständiger Arbeitnehmer in der EU und zu damit verbundenen Aufgaben von Gewerkschaften veröffentlicht, die Aufmerksamkeit verdient.

Das Thema selbst hat eine je nach Beruf und Branche unterschiedlich lange Geschichte, hat aber unter den Arbeitgebern in den letzten Jahren noch mehr Verfechter gewonnen. Die angeblich „selbständigen“ Fahrer von Unternehmen wie dem US-Postunternehmens UPS oder heutzutage die Taxifahrer bei Uber, Journalisten, die nicht mehr festangestellt sind, sondern nach Zeilenhonorar bezahlt werden, Schauspieler und andere Künstler, die nur „pro Film“ oder Auftritt bezahlt werden, sind mehr oder weniger bekannt. Dass ein Konzern wie IBM vor mehreren Jahren verkündete, die Zahl seiner weltweit Beschäftigten von etwa 300 000 auf nur noch 30 000 „fest Angestellte“ reduzieren und stattdessen global über das Internet zehntausende „Freelancer“ in aller Welt je nach Projekt heuern und feuern zu wollen, ist bis heute weniger bekannt. Inzwischen beschäftigt der boomende Onlinehandel, aber auch Online-Beratungsdienst in ganz Europa vermutlich hunderttausende sogenannte „Selbständige“ – Studierende, Hausfrauen, Rentner, die sich so ein kleines Zuverdienst verschaffen wollen, aber auch Fachkräfte, die sich gegenseitig um international oder europaweit ausgeschriebene Aufträge für IT-Projekte großer Konzerne Konkurrenz machen. Auch die vermeintlich „selbständigen“ LKW-Fahrer, viele Verkäuferinnen in den großen Malls und Kaufhäusern, Pizzaboten, Fahrradkuriere, Reinigungskräfte und Küchenbeschäftigte schicker Restaurants und Hotels sowie die vermeintlich „selbständig Beschäftigten“ bei berüchtigten Billigfliegern wie Ryanair gehören in dieses Bild. Kurzum: Das Thema ist weit gefächert und verdient unbedingt eine größere Aufmerksamkeit, durch den Gesetzgeber ebenso wie durch Gewerkschaften.

Die fast 90 Seiten umfassende Studie des EGB geht weitgehend zurück auf einen Fragebogen, den der Dachverband der Gewerkschaften in der EU im Mai 2017 an seine Mitgliedsgewerkschaften versandt hatte. 50 Antworten aus 23 EU-Staaten kamen daraufhin zurück, davon 21 aus EU-Staaten und je eine aus Norwegen und Serbien. Aus 7 EU-Mitgliedstaaten: Kroatien, Zypern, Griechenland, Luxemburg, Malta, Portugal und Rumänien, kamen leider keine Antworten.

Zunächst zu den Zahlen. Nach Angaben von Eurostat, dem Statistischen Amt der EU, waren 2016 von den insgesamt 214,7 Millionen Beschäftigten in der EU 30,5 Millionen Selbständige. Von diesen hatten 8,7 Millionen abhängig Beschäftigte, während 21,8 Millionen „allein“ selbständig waren, also von ihrer eigenen Arbeit lebten. Das heißt: EU-weit ist jeder zehnte Beschäftigte ein sogenannter „selbständig Beschäftigter“. 60 Prozent dieser „allein Selbständigen“ arbeiteten in den Branchen Landwirtschaft, Fischerei und Forstwirtschaft, Groß- und Einzelhandel, Bau und professionelle und wissenschaftliche Dienstleistungen. Dabei differiert das Ausmaß an „Selbständigkeit“ in der EU enorm, vermutlich vor allem wegen bestehenden und/oder fehlenden einzelstaatlichen gesetzlichen Schranken. Das Land mit dem höchsten Anteil von „allein Selbständigen“ ist aktuell Griechenland. 22,3% aller dort heute Beschäftigten fallen in diese Kategorie. Den niedrigsten Anteil hat Dänemark, hier ist das skandinavische Sozialstaatsmodell offenbar noch weitgehend intakt und sind infolgedessen gerade einmal 4,6% aller Beschäftigten „selbständig“. EU-weit ist die Zahl dieser „allein Selbständigen“ in den letzten fünf Jahren um 5,2 Prozent gestiegen. Besonders stark war der Anstieg in den baltischen Ländern und in Großbritannien. In Kroatien, Griechenland und Deutschland dagegen fiel die Zahl dieser Beschäftigten, wobei der Rückgang in Griechenland vermutlich auf den dramatischen Rückgang aller Beschäftigten zurück zu führen sein dürfte. Der EGB vermutet, dass der Anstieg dieser Form von Beschäftigung auf das Motiv (vor allem der Unternehmen) zurück geht, auf diese Steuern und Sozialabgaben zu sparen. Steigende „Selbständigkeit“ ist deshalb für ihn ein Hinweis auf zunehmende Prekarität der Lebensverhältnisse in solchen Sektoren

In einer Vielzahl von EU-Staaten gibt es schon jetzt eine gewerkschaftliche Organisierung unter solchen Beschäftigtengruppen. Dazu zählen Journalistengewerkschaften, Vereinigungen von Künstlern, Artisten, Dolmetschern und Übersetzern, zum Teil Architekten und medizinische Berufe. Diese sind weitgehend in sogenannten „Berufsgewerkschaften“ organisiert. Auf der anderen Seite gibt es Gewerkschaften, die insbesondere im Bereich der „Prekarität“ organisieren, d.h. unter Leih- und Zeitbeschäftigten, Befristeten usw. In Italien zum Beispiel haben die drei größten Gewerkschaftsbünde alle spezielle „Organisierungs-Teams“ für solche Beschäftigtengruppen. Auch in Slowenien gibt es solche Ansätze und in Großbritannien, dort aber nicht unter den Gewerkschaften des TUC. Einzelgewerkschaften, die nur für „Selbständige“ tätig sind, finden sich in Spanien im (ehemals sozialdemokratischen) Gewerkschaftsbund UGT, in den Niederlanden im FNV und in Teilen in Italien im Gewerkschaftsbund CISL. Eine dritte Entwicklung – die Öffnung sogenannter „Mainstream“-Gewerkschaften für Selbständige – ist dagegen neu. Dazu gehören die IG Metall, die sich auf ihrem letzten Gewerkschaftstag per Satzungsänderung erstmals für Selbständige (z.B. Cloudworker, d.h. Menschen, die sich im Internet ein Zubrot oder ihr komplettes Entgelt verdienen) geöffnet hat, ebenso wie die Gewerkschaft Unionen in Schweden, Unite und die GMB in Großbritannien und die Dachverbände CGT in Frankreich und die CCOO in Spanien.

All das dokumentiert: Es gibt einen wachsenden Bedarf an gewerkschaftlicher Arbeit in diesen Sektoren, und es gibt einen wachsenden Bedarf an gesetzlicher Regulierung. Die Autoren der Studie machen das an zahlreichen Detailberichten aus einzelnen Sektoren und EU-Staaten deutlich. Hierzulande ist das Thema schon ein wenig bekannt, wenngleich weniger beachtet, unter dem Stichwort „Bürgerversicherung“, d.h. unter dem Auftrag, auch selbständig Beschäftigte gegen die Lebensrisiken Krankheit, Arbeitslosigkeit und Altersarmut zu schützen. Weniger bekannt, wenngleich in anderen EU-Ländern offenbar nicht selten, sind sogenannte „Wettbewerbsgesetze“, die die Möglichkeiten gewerkschaftlicher Organisierung solcher Beschäftigten direkt behindern, wenn nicht sogar verbieten, unter der bekannt-berüchtigten Losung der „Freiheit der Märkte“ und der „freien Konkurrenz“. Dem entgegen zu treten, den Wettbewerb durch Regeln zum Schutz der Beschäftigten zu ordnen, ist der Appell der Autoren zum Abschluss ihrer lesenswerten Studie.

Abb (PDF): Cover Studie

Abb (PDF): Beschäftigte von Ryanair auf der „Unteilbar“-Demonstration kürzlich in Berlin. Sie fordern die Streichung des § 117 im deutschen Betriebsverfassungsgesetz. Dieser erlaubt die Bildung von Betriebsräten durch im Flugbetrieb beschäftigte Arbeitnehmer nur, wenn ein Tarifvertrag für deren Bildung geschlossen wurde. Diesen Tarifvertrag verweigert Ryanair bisher. Eines von vielen Beispielen, wo gesetzliche Regelungen zugunsten von Beschäftigten geändert werden müssen.

Abb (PDF): Tabelle Anteile „Selbständiger“