Aus Politische Berichte Nr. 03/2019, S.03 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Europawahlprogramm 2019: internationalistisch, sozial, für Menschen- und BürgerInnenrechte und linke EU-Reformpolitik

Christoph Cornides, Mannheim

Auf ihrem Parteitag in Bonn vom 22. bis 24. Februar 2019 hat Die Linke mit großer Mehrheit der Delegierten ihr Europawahlprogramm 2019 verabschiedet. Der Entwurf des Parteivorstandes wurde in der Diskussion über mehrere hundert Anträge abgeändert und in Teilen erweitert. Viele Änderungsanträge wurden von den Antragstellern übernommen. Zwei Änderungsdiskussionen hatten besonderes Gewicht. Einmal die um die Streichung des „Labels“ „militaristisch, neoliberal und undemokratisch“ als generelle Charakterisierung der EU. Die Formulierung stand im ersten Programmentwurf des Parteivorstandes, wurde dann im weiteren Entwurf gestrichen und sollte in Änderungsanträgen auf dem Parteitag dann wieder aufgenommen werden. Diese Charakterisierung der EU wurde mehrheitlich und deutlich abgelehnt. Eine zweite wichtige Änderungsdiskussion war die um einen Antrag des Forums Demokratischer Sozialismus (fds). Danach sollte in das Wahlprogramm das Ziel der „Republik Europa“ und eines „Europa der Regionen“ als Perspektive linker Europapolitik aufgenommen werden. Dieser Antrag fand nicht wenig Unterstützung, aber keine Mehrheit. Einwände gegen die vorgeschlagenen Formulierungen gab es auch aus den Reihen derjenigen, die für soziale und politische Reformen der EU und gegen nationale Abschottung eintreten. Solche Kurzformeln für Visionen und Perspektiven klären zu wenig und sind mit dem Begriff „Europa der Regionen“ in der derzeitigen Diskussion auch nicht trennscharf gegen rechts.

Eine schon seit Jahren konstante Kompromissformel der Linken, die Reformen der EU nicht ausschließen und gleichzeitig Kritiken unterschiedlicher Art an der EU Raum lassen soll, wurde auch aufgenommen bzw. weitergeführt: die vom „Neustart“ Europas bzw. der EU. Sie kann aber im Kontext des jetzt verabschiedeten Wahlprogramms eine andere Gewichtung und Richtung einnehmen als bisher.

Kein Zurück hinter die beschlossene internationalistische Ausrichtung

Was der etwas holzschnittartige Titel „Für ein solidarisches Europa der Millionen, gegen eine Europäische Union der Millionäre“ zunächst einmal nicht unbedingt vermuten lässt, erschließt sich dann aber bereits im Einleitungsteil: Der Bonner Parteitag der Linken hat mit dem über 60 Seiten nicht eben kurzen Europawahlprogramm 2019 eine deutliche Richtungsentscheidung getroffen, die als solche auch in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird. Auch in Teilen der Presse über den Parteitag wird das Europawahlprogramm 2019 der Linken immerhin in die Kategorie „europa-optimistisch“ eingeordnet (stellvertretend z.B. der „Freitag“ vom 25.2.2019).

Wie auch immer man die Entwicklung aus Pressesicht benennen mag, mit dem Europaparteitag 2019 hat die Linke in Sachen Europäischer Union eine klare Abkehr von nationalstaatlichen Fixierungen und für eine linke, internationalistische Sicht auf Europa und die EU beschlossen, hinter die die Partei zukünftig kaum zurückgehen kann. Sie hat immerhin den Weg für eine an den Realitäten und dem Ist-Zustand der Dinge orientierte, strukturändernde, linke Europa- und EU-Reformpolitik geöffnet.

Gleich der zweite Abschnitt der Einleitung befasst sich mit der Frage der Verbindung von Kritik des Ist-Zustandes und den Perspektiven der notwendigen Veränderung: „Die Linke steht für die europäische Idee von sozialer Gerechtigkeit, Humanismus und internationaler Solidarität. Die Linke befürwortet ein geeintes Europa. Zugleich sind wir überzeugt, dass die derzeitigen EU-Verträge keine taugliche Grundlage für ein soziales, demokratisches, ökologisches und friedliches Europa sind. Die Europäische Union ist nicht so, wie wir sie wollen. Sie entspricht nicht einmal den selbst formulierten Zielen. Weil Neoliberalismus und Profitstreben in die EU-Verträge eingeschrieben sind. Zu oft steht Wettbewerb über dem Bedarf der Bevölkerung, die Freiheit der Unternehmen über der Freiheit der Menschen von Armut und Unsicherheit…“

Und weiter zu einer konkreten, praktisch/politischen Interpretation von Neustart: „Neustart der EU heißt, die Prioritäten umzukehren: Nicht die Freiheit des Marktes oder die Interessen einzelner Regierungen stehen an erster Stelle, sondern die Interessen der Mehrheit der Menschen … Bei allem Widerspruch zur derzeitig vorherrschenden Politik in der EU: Es gibt viele Menschen innerhalb und außerhalb der Europäischen Union, die ihre Hoffnungen mit der europäischen Integration verbinden. Gerade weil sie erkennen, dass Faschisten und Nationalisten die Europäische Union zerstören wollen und ein gefährlicher Nationalismus um sich greift. Viele fühlen sich angesichts der Entwicklung in Europa an die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnert, an zwei durch Nationalismus hervorgerufene Weltkriege, und haben Angst davor, dass sich dieses Grauen mit einem Auseinanderbrechen der Europäischen Union wiederholt. Spätestens seit dem Brexit wissen viele Menschen, dass es wichtig ist, die europäische Idee und die Europäische Union zu retten. In einer Zeit, in der nicht nur die Europäische Union als Institution von rechts bedroht ist, sondern auch das friedliche Zusammenleben der Menschen auf dem Kontinent Europa, wo Nationalisten nach der Macht in den einzelnen Nationalstaaten, aber auch auf der Ebene des Europäischen Parlaments greifen, in der einzelne Nationalstaaten gültiges internationales Recht oder auch die demokratischen und menschenrechtlichen Grundprinzipien außer Kraft setzen, braucht es eine starke, einige und entschlossene Linke, die für ein demokratisches und weltoffenes Europa kämpft … Die Zeit drängt. Deshalb braucht es eine neue Erzählung von Europa. Progressive linke Politik auf europäischer Ebene bedeutet: Mehr Europa wagen! Einige Erfolge auf dem Weg dorthin tragen schon die Handschrift linker Politik, seien es fortschrittliche Änderungen beim Vergaberecht, sei es das ‚Konto für alle‘, die Durchsetzung des Prinzips gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der Entsenderichtlinie oder der verbesserte Datenschutz. Hier zeigt sich der Gebrauchswert linker Politik, genau dafür werden wir gewählt…“

Für linke EU-Reformpolitik und Kritik der EU und deutscher EU-Europapolitik

In zwölf Kapiteln wird im Europawahlprogramm 2019 sodann versucht, die mit der Einleitung eingeschlagene Richtung in den Einzelthemen linker Politik umzusetzen. Offen bleibt allerdings, wie und mit wem die Linke beim gegenwärtigen Stand der Dinge zu einer sozialen Änderung der EU bei den bestehenden Vertragsgrundlagen zwischen den Mitgliedsstaaten ansetzen will – noch dazu, wo Deutschland zu den Hauptverantwortlichen für den gegenwärtigen Stand der EU gehört. Genug Ansatzpunkte für linke Europapolitik auch im Rahmen der bestehenden Grundsatzverträge enthalten die zwölf Abschnitte aber allemal. Es bleibt die Aufgabe, daraus ein Aktionsprogramm der Linken für Europaparlament und deutschen Bundestag zu entwickeln.

Unter dem Abschnitt „3. Soziale Absicherung für alle, Armut in Europa abschaffen“ z.B. fordert die Linke eine europäische Arbeitslosenversicherung und zwar zunächst in der Form eines Rückversicherungsfonds für die Arbeitslosenversicherungen der einzelnen Länder. Die Fristen, nach denen die Beschäftigten dem Sozialversicherungssystem des Arbeitsortes unterliegen, sollen verkürzt werden. Gefordert wird auch die Einführung einer europäischen Sozialversicherungsnummer und die Einführung von Mindeststandards bei Einkommen und Renten oberhalb der Armutsrisikogrenzen der einzelnen Länder. Darüber hinaus fordert die Linke den Ausbau des öffentlichen Sektors und auf den örtlichen und regionalen Ebenen eine Stärkung der Selbstverwaltung. „Wir wollen Gesundheit, Wohnen, Mobilität und Energieversorgung in öffentlicher Hand – nicht als Ausnahme von den EU-Regelungen, sondern als deren Bestandteil. Die Verträge und Richtlinien der EU müssen entsprechend geändert werden.“

Die Entwicklung der Regionen soll mit einem europäischen Investitionsprogramm gestärkt werden. „Die Europäische Union muss die Regionen mit gravierendem Entwicklungsrückstand stärken und zugleich die Stabilität in allen anderen Regionen stützen.“

Die Linke fordert eine weitere Stärkung der Rechte des EU-Parlaments und eine Demokratisierung der Institutionen. „Politische Entscheidungen in der EU sollen so bürgernah wie möglich getroffen werden. Entscheidungen sollen auf den Ebenen getroffen werden, die am stärksten davon betroffen sind: kommunale Angelegenheiten in den Kommunen und Länderangelegenheiten in den nationalen Parlamenten.“

Die Linke fordert die Erweiterung sicherer Fluchtwege und im Kampf gegen Fluchtursachen nicht zuletzt die Schließung der Finanzierungslücke der UNO-Flüchtlingsorganisation, der UNHCR, des Welternährungsprogrammes und der Weltgesundheitsorganisation. Anzuerkennende Fluchtursachen müssen erweitert und die Visa-Vergabe erleichtert werden.

So gesehen beinhaltet das Europawahlprogramm also nicht nur eine politische Neuorientierung, sondern auch eine Fülle von Themen und Vorschlägen für konkretisierende Diskussionen mit den Wählerinnen und Wählern im Europawahlkampf.