Aus Politische Berichte Nr. 04/2019, S.05 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

„The 3million“ und „British in Europe“

Einleitung und Interviewfragen: Eva Detscher, Kerlsruhe. – Prof. Dr. Tanja Bueltmann (Professorin für Geschichte und Vize-Dekanin in der Fakultät für Arts, Design and Social Sciences, Northumbria University, Newcastle) hat im Rahmen der 23. Karlsruher Gespräche „Die Verantwortungsgesellschaft: Zwischen Herausforderung und Überforderung“ am 23. Februar dieses Jahres über eine historische Perspektive auf die britische Migration, aber auch über den Brexit und die heutige britische Identitätspolitik vorgetragen. Der Blick auf Auswanderung und auch auf die bürgerrechtliche Seite des Brexits für EU-Bürger und Briten in der EU weist auf leider oft übersehene Konsequenzen politischen Handelns hin. Dazu das folgende Interview.

Sie haben in Ihrem Vortrag auf zwei Fakten aufmerksam gemacht, die bisher bei der Debatte um den Brexit kaum eine Rolle gespielt haben: 3 Millionen Auslandsbriten, die nicht abstimmen durften beim Referendum 2016, und 5 Millionen EU-Bürger (Briten in EU-Ländern und EU-Bürger im Vereinigten Königreich), die seit 1000 Tagen in der Schwebe leben, wie es mit ihnen weitergehen wird nach einem Brexit. „5 Millionen werden des Verbrechens beschuldigt, die Freizügigkeit genutzt zu haben“, war Ihre drastische Formulierung. Was hat es mit den 3 Millionen auf sich, und wie stellt sich die Lage der 5 Millionen, insbesondere aber auch der EU-Bürger in UK dar.

Zunächst erlaube ich mir einmal eine Korrektur: es sind 3,6 Millionen EU-Bürger in Großbritannien, und zirka 1,3 Millionen Briten in anderen EU Ländern. Daher sprechen wir von uns zusammen als „die fünf Millionen“, weil wir zusammen eben ungefähr so viele sind. Dann gibt es aber auch noch die Organisation „the3million“ – so ist ihr Name, weil nach dem Referendum zunächst immer von 3 Millionen EU-Bürgern in Großbritannien gesprochen wurde (mittlerweile ist klar, dass es mehr sind). Diese Gruppe vertritt uns EU-Bürger in Großbritannien, macht Lobbyarbeit und informiert über die Situation zu unseren Rechten (das Gegenstück für die Briten in der EU sind „British in Europe“).

Nun zur Lage: Wir sind die am direktesten betroffene Gruppe. Seit nunmehr über tausend Tagen leben wir sozusagen im Schwebezustand. Schuld daran hat zunächst einmal Theresa May: sie hat die Rechte von uns EU-Bürgern in Großbritannien, und damit eben auch die von Briten, die in einem anderen EU-Land leben, in die Verhandlungen hineingezogen; sie hat uns zur Verhandlungsmasse gemacht. Zu Beginn der Verhandlungen hatte die EU ein Angebot zur Sicherung unserer Rechte gemacht, aber das hat May abgelehnt. Seitdem ging es immer bergab. Ende 2017 wurde als Teil des Austrittsabkommens auch ein Abkommen zu unseren Rechten beschlossen, dieses gilt aber nur dann, wenn es überhaupt zu einem Abkommen kommt. Sollte es zu einem ungeregelten Brexit kommen, dann sieht es für die Bürgerrechte ganz schlecht aus. Zwar hat Großbritannien unilateral Zusagen gemacht, aber da sie unilateral sind, decken sie eben nicht alles ab. Für Briten in der EU ist die Lage noch schlimmer, weil es dann eben unter Umständen 27 verschiedene Abkommen zu ihren Rechten geben wird. Leider muss man sagen, dass sich die EU nun mittlerweile auch nicht mit Ruhm bekleckert: sie lehnt die Abkopplung der Bürgerrechte von den restlichen Verhandlungen bisher ab – eine solche Abkopplung würde uns fünf Millionen Menschen zumindest etwas Sicherheit geben, und unseren Schwebezustand beenden. Praktisch ist es machbar; legal gibt es kein Hindernis. Aber bisher fehlt der politische Wille. Das ist sehr tragisch – vor allem auch, weil manche Politiker meinen, so eine Abkopplung sei Rosinenpickerei. Fünf Million Menschen sind aber keine Rosinen. Und so kann man leider nur festhalten, dass hier gerade fünf Millionen Menschen von nun beiden Seiten auf dem Brexit-Altar geopfert werden. Die EU kann die Position noch ändern und hat die menschliche Pflicht, das auch zu tun. Wofür steht die EU, wenn sie diejenigen, die die Freizügigkeit – das Herzstück der EU – jeden Tag leben, nicht beschützt?

Selbst wenn es aber zu einem Abkommen kommt, sieht alles noch immer ziemlich schlecht aus. Alle EU-Bürger in Großbritannien müssen sich bewerben, wenn sie bleiben wollen – damit muss man erstmal mental klarkommen: selbst Menschen, die seit 30 oder 40 Jahren hier leben, müssen dies tun, wenn sie keine anderen Dokumente haben, die ihre Rechte bereits bestätigen. Zudem wird das System auf eine Weise umgesetzt werden, die in vielerlei Hinsicht den Schwebezustand aufrechterhält. So können Millionen von Menschen doch nicht leben! Sie haben nichts falsch gemacht. Das Leben in der Schwebe hat zudem schon jetzt viele negative Folgen. So höre und lese ich zum Beispiel vermehrt von Selbstmordgedanken. Politiker und Kommentatoren auf beiden Seiten sehen dies nicht (oder wollen es nicht sehen). Der menschliche Preis des Brexits ist bereits jetzt viel zu hoch.

Sie haben in der Konsequenz an Ihre Zuhörer appelliert, die jeweiligen EU-Parlamentarier zu mobilisieren, dass sie sich für die Bürgerrechte dieser Betroffenen ganz konkret einsetzen sollen, nämlich die Bürgerrechtsfrage vom Brexit-Deal zu trennen. Wie würde das konkret aussehen?

Es gibt verschiedenen Möglichkeiten. Die Forderung von the3million und British in Europe ist es, dass man sozusagen eine Notfallklausel einbaut: sollte es zum ungeregelten Brexit kommen, dann müssen die Rechte abgekoppelt werden und das Abkommen zu den Bürgerrechten trotzdem umgesetzt werden. Nur so, über einen bilateralen, internationalen Vertrag, kann man etwas Sicherheit geben. Sonst gibt es einen Flickenteppich, und Menschen würden, davon muss man ausgehen, auf Jahre weiterhin Verhandlungsmasse bleiben. Je mehr Menschen über diese Situation wissen, und ihre Politiker vor Ort darum bitten, die Abkopplung zu unterstützen, desto besser.

Sie zitierten Theresa May vom Oktober 2016: „If you believe you are a citizen of the world, you are a citizen of nowhere. You don’t understand what citizenship means.“ Sie gab damit den Startschuss für eine politische Zukunft von Großbritannien, die plakativ mit dem Begriff Empire 2.0 beschrieben werden kann. Was spielt sich auf der Seite dieser nationalistischen, von „Rule-Britannia“-Wahnvorstellungen getriebenen politischen Akteure ab? (Die spannende Auseinandersetzung über diesen Ausspruch von Theresia May: https://www.bbc.com/news/uk-politics-37788717)

Nostalgie für das Empire – genauer gesagt, eine Nostalgie für ein Empire, das es so eigentlich nie gab – spielt eine ganz große Rolle in der Selbstwahrnehmung vieler Briten. Wobei man das qualifizieren muss: vor allem vieler Engländer. Nach dem Wegfall des Empire hat Großbritannien es nie wieder vermocht, eine richtige Führungsrolle einzunehmen. Viele glauben nun, dass das nach dem Brexit der Fall sein wird. Das man wieder ein „big player“ sein kann. Das ist natürlich Quatsch: das genaue Gegenteil wird der Fall sein. Zudem kommt hinzu, dass Großbritannien seine eigene imperiale Geschichte nie richtig aufgearbeitet hat. So kommt es manchmal zu einem sehr verschrobenen Verständnis dazu, wie Dinge funktionieren. Das sieht man ja jetzt besonders gut: viele wollen eben den EU-Club verlassen, aber trotzdem alle Clubvorteile nutzen. Die Annahme, dass sie etwas Besonderes sind, dass sie besser sind als andere – das gibt es unter vielen Briten, und vor allem unter Engländern, schon lange. All dies ist nichts anderes als Populismus. Indem man mit der Nostalgie und Erinnerungen an Weltmacht spielt, und zeitgleich Migranten als „die anderen“ bezeichnet, die schlecht sind und nur Schaden bringen, spielt man Menschen gegeneinander aus. Und zwar vor allem mit Lügen.

Sie sprachen auch davon, dass Sie sich gleich am ersten Tag nach dem Referendum einem bis dahin nicht gekannten Anti-German-Ressentiment ausgesetzt sahen. Politiker, also Verantwortungsträger, hätten das aufgebracht. Wie hat sich diese Stimmung entwickelt in den letzten drei Jahren?

Schon während des Referendums sah man das immer wieder. In den letzten vier Monaten hat es sich aber nochmal verstärkt. Ich habe dazu hier mehr geschrieben: https://www.haaretz.com/world-news/.premium-how-brexit-has-made-britain-anti-german-again-1.6912971 Oft bezieht sich die Rhetorik auf die Weltkriege und dass Großbritannien doch den Zweiten Weltkrieg gewonnen hätte. Dass das nur mit Verbündeten möglich war, wird gerne vergessen.

Können Sie uns noch ein paar Sätze zu Ihren Forschungsschwerpunkten sagen – die britische Emigration überhaupt in den Fokus zu nehmen, ist in den gegenwärtigen Zeiten so aktuell, dass ich mich über eine Leseempfehlung von Ihnen für eines Ihrer Bücher freuen würde.

Ich beschäftige mich mit der Emigration von Schotten und Engländern, insbesondere im Zeitraum zirka 1800 bis 1930. Insbesondere interessiert mich, warum viele Migranten in ihrer neuen Heimat als Gruppen zusammenkommen – welche Rolle spielt die Ethnizität für die Identität, aber auch für Netzwerke – wir sprechen hier im Grunde vom sozialen Netzwerk vor Facebook und Linkedin, denn genau so nutzen viele schottische und englische Migranten (und eigentlich alle Migranten aller Gruppen) oft ihre Ethnizität. Ich empfehle Ihnen: „The English Diaspora in North America“ (https://books.google.co.uk/books?id=IYLJDgAAQBAJ&printsec=frontcover&dq=english+ethnicity+bültmann&hl=en&sa=X&ved=0ahUKEwjM2_Xbi7ThAhXZSxUIHbSmApIQ6ÄIKDAA

Als letzte Frage: Sie haben eine Kampagne gestartet: EU Citizens‘ Champion (http://eucitizenschampion.co.uk). Können Sie uns über Ziele der Kampagne, vielleicht von Aktionen und von der Resonanz berichten?

Diese Kampagne hat zwei Ziele: zum einen finanziert sie einen Teil der Arbeit der the3million. Zum Beispiel werden the3million im Sommer eine neue Wohltätigkeitsorganisation, „Settled“ (frei übersetzt: Niedergelassen), haben, die EU-Bürgern bei der Bewerbung auf den neuen Status helfen wird. Für die Arbeit, die damit zusammenhängt, kommt das Geld im Moment direkt (und nur) von Spenden über meine Kampagne. Das zweite Ziel ist es, über die Situation der EU-Bürger zu informieren, Briten zu erklären, wie die Lage ist, und was nun passiert. Letztendlich soll das dazu dienen, den Diskurs zur Migration insgesamt positiv zu verbessern. Dazu stellt die Kampagne zum Beispiel Materialien zur Verfügung. Dazu gab es verschiedene Aktionen, einige davon sind in diesem Newsletter dargestellt: https://spark.adobe.com/page/5SHstTFS1NpAA/?ref=https%3A%2F%2Fspark.adobe.com%2Fpage%2F5SHstTFS1NpAA%2Fembed.html&embed_type=overlay&context=expand.

Vielen Dank für das Interview, viel Erfolg zur Erreichung Ihrer Ziele.

Die Interviewfragen stellte Eva Detscher, Karlsruhe

Anmerkungen:

Der Vortrag von Frau Prof. Bueltmann bei den 23. Karlsruher Gesprächen kann auf Youtube angesehen werden: https://www.youtube.com/watch?v=9wGKXQ-bMV0

Noch zur Person: Frau Bueltmann ist eine Historikerin der Migration und Diaspora. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen im Bereich der britischen Weltgeschichte, insbesondere der Kultur- und Sozialgeschichte schottischer, englischer und deutscher Auswanderer. Ihr besonderes Interesse gilt dem Verbandsleben der Auswanderer in Nordamerika, den Antipoden und Teilen Asiens. Sie ist seit langem bestrebt, eine breitere Öffentlichkeit über ihre Forschung zu informieren, und arbeitet dazu mit verschiedenen Gruppen und heutigen Klubs und Verbänden von Auswanderern, aber auch Museen zusammen, insbesondere dem National Museum of Scotland. Frau Bueltmann ist auch eine produktive Kommentatorin für weiterreichende soziale und politische Themen, unter anderem für den Guardian, The Big Issue und Huffington Post. Auf Twitter ist Frau Prof. Bueltmann auch zu finden: https://twitter.com/cliodiaspora

Abb. (PDF): Prof. Dr. Tanja Bueltmann.

Abb. (PDF): Cover „The English Diaspora in North America“