Aus Politische Berichte Nr. 05/2019, S.10 • InhaltsverzeichnisPDFPB-Archiv

Riesige kommunale Altschulden im Ruhrgebiet – Rahmenbedingungen zur Problemlösung aber günstig wie nie

Thorsten Jannoff, Gelsenkirchen

Bundesweit sind über 2.300 Kommunen mit rund 46 Mrd. Euro nur an Liquiditätskrediten verschuldet, davon allein die Kommunen im Ruhrgebiet mit fast 15 Mrd. Euro. Ein Drittel aller kommunalen Dispo-Kredite konzentriert sich damit an der Ruhr und behindert den Strukturwandel. „Trotz guter Wirtschaftsdaten steigt die Armut“, stellt die DGB-Landesvorsitzende Anja Weber fest. Der DGB-NRW hat deshalb am 11. April in Kooperation mit der Stadt Gelsenkirchen einen Kongress zur Entschuldung der Kommunen durchgeführt. Dort stellte der Kommunalfinanzwissenschaftler Prof. Dr. Martin Junkernheinrich Modelle für einen Weg aus der Verschuldung vor.

Ein Altschuldenfonds unter Beteiligung von Bund und Land

Demnach sollen sich Bund und Land an einen Altschuldenfonds beteiligen, denn diese beiden Ebenen haben eine „hohe Mitverantwortung an der Entstehung des Problems“. Dieser Fonds soll die Schulden aus den Liquiditätskrediten der Kommunen übernehmen, bis auf einen verbleibenden Sockelbetrag von 100 Euro je Einwohner in den kreisfreien Städten. Dieses Modell würde für eine flächendeckende Hilfe sorgen. Für die Stadt Essen z.B. würde so angesichts des aktuellen Dispos von über 2,2 Mrd. Euro, fast 3.800 Euro je Einwohner, eine relativ geringe Summe von knapp 60 Mio. Euro an Liquiditätskrediten übrigbleiben und sich damit wieder in einem vernünftigen Rahmen bewegen. Ausgangspunkt dieser Überlegungen ist das sog. „Hessen-Modell“. Dort beteiligt sich das Land zu 50 Prozent an den Altschulden, jede Kommune tilgt längstens 30 Jahre mit 25 Euro pro Einwohner, danach übernimmt das Land den Rest. Eine Beteiligung ohne den Bund ist für Martin Junkernheinrich aber ausdrücklich keine Option für andere Regionen, denn „zum einen sind die Kommunen in Hessen insgesamt weniger verschuldet als in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und dem Saarland. Zum anderen gehört das Land Hessen wie im Durchschnitt auch seine Kommunen zu den finanzstärkeren in Deutschland. Gerade in Ländern mit besonders hoch verschuldeten Kommunen reichen weder die Finanzen des Landes noch die 25 Euro je Einwohner noch die 30 Jahre zur Problemlösung, geschweige denn zur Sicherung des Haushaltsausgleichs. Deshalb ist auch der Bund gefordert, hier einen Beitrag zur Entschuldung der Kommunen zu leisten. Da er angesichts seiner gesetzgeberischen Zuständigkeit insbesondere für die kommunalen Aufgaben und Ausgaben im Sozialbereich auch eine Mitverantwortung für deren Finanzierung trägt, der er in der Vergangenheit nur mangelhaft nachgekommen ist, ist eine Bundeshilfe auch wohl begründet. Die zuletzt vorgenommene Erhöhung seiner Beteiligung an den kommunalen Sozialausgaben reicht dazu auch nicht aus. Zudem finanziert sie nur die aktuellen Ausgaben. Seine Beteiligung an einem Altschuldenfonds wäre hingegen ein Ausgleich für eine in der Vergangenheit nicht ausreichende Finanzierung („nachholende Konnexität“).“

Günstige Rahmenbedingungen für Entschuldung durch nachholende Konnexität

Dieser „nachholenden Konnexität“ soll der Bund mit mindestens einer Drittelbeteiligung an den Altschulden nachkommen, für angemessen und realistisch hält Junkernheinrich aber 50 Prozent. Für die anderen 50 Prozent sollen Land und Kommunen mit je 25 Prozent aufkommen. Die Tilgung kann analog zum „Hessen-Modell“ für den kommunalen Anteil mit einem Festbetrag erfolgen. „Dieser kann durch einen Basisbetrag und einen individuellen auf der lokalen Zinslast basierenden Zinsanteil gebildet werden. Damit wird die kommunale Belastung für die hochverschuldeten Kommunen gedeckelt. Gering verschuldete Kommunen werden schneller entschuldet.“ Finanzieren können die Kommunen ihren Anteil zu einem großen Teil durch Zinsersparnis. So zahlt Essen in diesem Jahr rund 60 Mio. Euro Zinsen, 40 Mio. Euro für Investitionskredite und 20 Mio. Euro an Liquiditätszinsen. Diese Summe auf 30 Jahre hochgerechnet ergeben 600 Mio. Euro, aber nur wenn es bei dem aktuell niedrigen Liquiditätszinssatz bleibt, der im Gegensatz zum Zinssatz für Investitionskredite von durchschnittlich 2,79 Prozent bei unter einem Prozent liegt. Der kann sich aber erhöhen und deshalb muss schnell gehandelt werden. Das ist auch möglich. „Die Rahmenbedingungen zur Problemlösung sind so günstig wie noch nie“, stellt der Finanzwissenschaftler fest. Denn die Zinsen sind niedrig und die Ruhrgebietskommunen erzielen aktuell wegen höherer Steuereinnahmen, einer seit kurzem höheren Beteiligung des Bundes an den Sozialkosten und auch durch den umstrittenen Stärkungspakt Stadtfinanzen1 ausgeglichene Haushalte, überwiegend sogar mit leichten Überschüssen. Einige Kommunen haben bereits mit der Schuldentilgung angefangen. Allerdings sind bei der Höhe der Schulden so große und insbesondere „dauerhafte Überschüsse in einer Höhe erforderlich, die auch bei verschärften Sparbemühungen nicht erzielbar wären und auch von den Bürgern wohl kaum mitgetragen würden“, so die zutreffende Einschätzung. Denn das Ende der Fahnenstange beim Sparen ist im Ruhrgebiet schon längst erreicht. Die öffentliche Daseinsvorsorge ist in vielen Bereichen mangelhaft, die Infrastruktur und Schulen oft mehr als marode. Bereits ein leichter Zinsanstieg würde vielerorts wieder zu einem negativen Haushaltssaldo führen und ohne weitere Sparmaßnahmen nicht zu stemmen sein.

Das fünffache Dilemma

Die Ruhrgebietskommunen befinden sich laut Prof. Junkernheinrich in einem fünffachen Dilemma: „Ohne Zweifel werden auch in den Kommunen Fehler gemacht und liegen individuelle Problemlagen vor, weshalb sie auch nicht aus der Verantwortung genommen werden können. Die hohen Liquiditätskredite im Ruhrgebiet sind dennoch überwiegend das Ergebnis einer strukturellen Unterfinanzierung im Strukturwandel, die permanent unausgeglichene Haushalte zur Folge hatte. Im Ergebnis ist eine fiskalische Konstellation entstanden, die am besten als fünffaches Dilemma zu beschreiben ist. Der Strukturwandel hat:

• die Steuerbemessungsgrundlage geschwächt, zugleich aber

• die Sozialausgaben deutlich ansteigen lassen. Dadurch mussten die Ausgaben für andere wichtige Aufgaben zurückgefahren werden. Insbesondere

• das Investitionsniveau ist deshalb ausgesprochen niedrig. Zur Konsolidierung mussten u. a.

• die standortrelevanten Gewerbe- und Grundsteuerhebesätze überproportional angehoben werden. Dennoch reichten die Maßnahmen zum Haushaltsausgleich nicht aus. Es kam

• zu überproportional hohen Liquiditätskrediten, aus deren Finanzierung eine zusätzliche Belastung aus hohen Zinsausgaben resultiert.

In diesem Dilemma befinden sich aber auch Kommunen in anderen Regionen, deren ökonomische Basis ebenfalls weggebrochen ist, zum Beispiel die Schuhindustrie in Rheinland-Pfalz, die Montanindustrie im Saarland oder die Werftstandorte an der deutschen Küste. In Ostdeutschland hat der Transformationsprozess ebenfalls tiefe Spuren hinterlassen. Die zusätzlichen Maßnahmen zur Finanzierung des Aufbaus Ost haben aber das Problem der Kassenkredite nicht so stark aufkommen lassen.“

Bund bricht Verfassung

Mit der strukturellen Unterfinanzierung verstößt der Bund seit Jahren gegen die grundgesetzlich festgeschriebene Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse. Zwar befasst sich die Kommission „Gleichwertige Lebensverhältnisse“ unter dem Vorsitz des Bundesinnenministeriums in Form einer Arbeitsgruppe auch mit dem Thema „Kommunale Altschulden“. Weil das Problem aber nur relativ wenige Kommunen so sehr wie das Ruhrgebiet plagt, ist die Bereitschaft bei den anderen Kommunen in diese Richtung nicht sehr ausgeprägt. Sie favorisieren eher eine reine Entlastung bei den Sozialkosten. Forderungen wie die Dynamisierung der 5-Milliarden-Entlastung des Bundes im Sozialbereich, eine größere Beteiligung bei den Kosten der Unterkunft und die Übernahme der Hilfen für geduldete Flüchtlinge sowie eine sozialorientierte Ausrichtung des Verteilungsschlüssels bei der Umsatzsteuer werden auch von Martin Junkernheinrich geteilt. Diese Entlastungen sind allein deshalb schon wichtig, um den Haushaltsausgleich abzusichern. Allerdings würden sich so die Unterschiede zwischen leistungsstarken und leistungsschwachen Kommunen sogar noch verschärfen: „Würde sich der Bund nur über eine weitere Erhöhung der Bundesbeteiligung an den kommunalen Sozialausgaben beteiligen, würde dies wiederum die Kommunen in zwei Lager spalten: die einen können mit den zusätzlichen Mitteln noch mehr investieren, Steuern senken und/oder ihre Leistungen weiter steigern – die anderen müssen die Überschüsse für die Schuldentilgung verwenden und ihre Bürger weiter „kurz halten“. Die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse geriete so noch mehr aus dem Gleichgewicht“.

Eine Entschuldung und die Absicherung des Haushaltsausgleichs durch die Entlastung bei den Sozialkosten sind also zwei Paar Schuhe.

Konnexität durch Frühwarnsystem einhalten

Damit nach einer erfolgreichen Entschuldung die Kommunen nicht wieder in dieselbe Zwangslage geraten, empfiehlt Prof. Junkernheinrich die Rolle der Kommunalaufsicht auch in Richtung des Bundes zu verschärfen und ein Frühwarnsystem einzurichten, dass „nach individuellen und strukturellen Ursachen unterscheiden kann (Strukturanalyse-Kompetenz).“ Auch die Einhaltung der Konnexität durch den Bund gehört zu dieser Prüfung. Damit würde das hierarchische Verhältnis zwischen beiden Ebenen zwar nicht vom Kopf auf die Beine gestellt werden, aber immerhin würde sich die Position der Kommunen gegenüber dem Bund institutionell stärken. Andere Überlegungen, wie die nach einer Genehmigungspflicht von Liquiditätskrediten sind eher mit Vorsicht zu genießen, könnten sie doch dazu führen, dass die Kommunen zu sehr am Gängelband der Bezirksregierungen hängen.

Ein fiskalischer Neustart: Voraussetzung für die Lösung auch anderer Probleme

„Altschuldenabbau und Sicherung des Haushaltsausgleichs sind kein Selbstzweck. Sie sind vielmehr Voraussetzung dafür, dass die Folgen des Strukturwandels von den Kommunen im Ruhrgebiet bewältigt werden können. Dazu gehört beispielsweise, dass die Kommunen brach gefallene und von Giftstoffen belastetet Flächen aufbereiten und entwickeln können, um schnellstmöglich Raum für neue Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu gehört dann auch, dass Kinder und Jugendliche Tageseinrichtungen und Schulen in einem Zustand und mit einer Ausstattung vorfinden, die ihnen eine Chance zur Entwicklung ihres Potenzials geben und nicht schon am Anfang des Lebens das Gefühl von abgehängt sein vermitteln. Vielmehr müssen sie vorbereitet werden auf die mit dem fortschreitenden Strukturwandel immer höher werdenden Anforderung des späteren Erwerbslebens“, so Martin Junkernheinrich abschließend.

Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dass ohne massiven politischen Druck mit einer Umsetzung dieser gut durchdachten Vorschläge nicht zu rechnen ist, mit einer schnellen schon gar nicht. Immerhin gehen die meisten Finanz- und Wirtschaftsexperten davon aus, dass die Zinsen nicht so schnell steigen werden. Aber es kann auch anders kommen und ob schnell oder nicht, eine mögliche Zinserhöhung schwebt weiter als Damoklesschwert über den Kommunen. Hinzu kommen weitere Risiken, wie ein Rückgang der Steuereinnahmen oder ein Wegfall der Grundsteuer durch Uneinigkeit in der Bundesregierung. In Nordrhein-Westfalen befinden sich mit 26 Mrd. Euro weit mehr als die Hälfte der bundesweiten Kassenkredite. Es gibt viele gute Gründe für Die Linke NRW, die Entschuldung der Kommunen zu einem städteübergreifenden Schwerpunktthema im Kommunalwahlkampf 2020 zu machen.

1) Mit dem Stärkungspakt hat die ehemalige rot-grüne Landesregierung rund 5,8 Mrd. Euro zur Verfügung gestellt, die zum Teil über eine Umlage durch die besser gestellten Kommunen gegenfinanziert wurde. Der Stärkungspakt war mit rigorosen Sparauflagen versehen und der Maßgabe, bis 2020 ausgeglichene Haushalte auch ohne Stärkungspaktmittel zu erreichen. Das ist in Essen gelungen, es kam aber zu massiven Erhöhungen der Gewerbe- und Grundsteuer sowie einer Kürzung von 690 Stellen in der Stadtverwaltung. Die Situation wurde, auch durch den großen Zuzug von Geflüchteten, so schwierig, dass höhere Beamte rebellierten. 33 Amtsleiter protestierten im Jahr 2016 mit der „Klausenhofer Erklärung“ gegen diese Entwicklung. Mittlerweile sind wieder mindestens 250 neue Mitarbeiter eingestellt worden. Das Problem des Fachkräftemangels ist aber wie in allen Kommunen nach wie vor groß.Abb (PDF): Grafik zum Haushaltsausgleich

Quelle: Pressematerialien der Veranstaltung „Kommunale Altschulden im Ruhrgebiet – Handlungsoptionen für einen fiskalischen Neustart“ von NRW DGB in Kooperation mit der Stadt Gelsenkirchen am 11. April 2019 im Hans-Sachs-Haus in Gelsenkirchen