Politische Berichte Nr.1/2022 (PDF)08
EU-Politik

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Ohne Ergebnis – Seit fünf Jahren wird über die Modernisierung der EU-Koordinierung der Sozialsysteme verhandelt

01 Sozialkompass Europa

Thilo Janssen; Köln

Herzlichen Glückwunsch zum fünften Geburtstag. Am 13. Dezember 2016 legte die Europäische Kommission einen Gesetzgebungsvorschlag (1) vor, der die Verordnung (EG) Nr. 883/2004(2) zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (VO 883) modernisieren sollte. Seitdem verhandeln die europäischen Gesetzgeber Rat und EU-Parlament miteinander – ohne Ergebnis. Rumänien, Finnland, Kroatien, Deutschland, Portugal und zuletzt Slowenien sind daran gescheitert oder waren nicht willens, während ihrer jeweiligen Ratspräsidentschaft eine qualifizierte Mehrheit im Rat zu organisieren. Ob nun Frankreich versuchen wird, bis Ende Juni den gordischen Knoten zu lösen und die Verhandlungen abzuschließen, ist noch nicht bekannt.

Die VO 883 hat eine lange Geschichte. Sie geht zurück auf die Verordnung Nr. 3 der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaften über die soziale Sicherheit der Wanderarbeitnehmer aus dem Jahr 1958. Wer innerhalb des Europäischen Wirtschaftsraums (EWR) eine Grenze überschreitet und auf Systeme der sozialen Sicherheit angewiesen ist, wird von der VO 883 geschützt. Sie koordiniert alle Sozialversicherungszweige, nicht jedoch die Sozialhilfe, und regelt Fragen wie: Wann ist welche Berufsunfallversicherung anwendbar? Wie werden Rentenansprüche zusammengerechnet, wenn Beschäftigte in mehreren EU-Ländern gearbeitet haben? Darf ich mein Arbeitslosengeld zur Arbeitssuche mit ins Ausland nehmen?

Die letzte Überarbeitung der Verordnung trat 2010 in Kraft. Seitdem haben sich sowohl die Mobilität der EU-BürgerInnen, die nationalen Sozialversicherungen als auch der politische Rahmen weiterentwickelt. Ein paar Schlaglichter: Während im Jahr 2010 etwas über neun Millionen EuropäerInnen in einem anderen EU-Land lebten, waren es im Jahr 2020 rund dreizehn Millionen – eine Steigerung um über 40%. Auch die Zahl der Grenzpendler nimmt zu, also derjenigen Beschäftigten, die in einem Land wohnen und in einem anderen arbeiten: So stieg etwa die Zahl der Grenzpendler von Tschechien nach Deutschland von 3713 im Jahr 2010 auf 34242 im Jahr 2019, und von Polen nach Deutschland von 8349 auf 68902. Die Zahl der für ins Ausland entsandte Beschäftigte ausgestellten A1-Formulare (Nachweis über die Sozialversicherung) stieg von 2010 bis 2019 von etwa einer Million auf 3,2 Millionen in der gesamten EU (die Zahl nicht gemeldeter, mitunter illegaler Entsendungen liegt geschätzt viel höher).

Seitens der nationalen Sozialversicherungssysteme hat sich etwa die Pflegeversicherung als eigenständiger Sozialversicherungszweig in den meisten EU-Ländern etabliert oder wurde ausgebaut.

Der politische Rahmen für mobile EU-BürgerInnen hat sich durch die Reform der Entsenderichtlinie 2018 (3) und die Schaffung der Europäischen Arbeitsbehörde (ELA) (4) geändert. Mit der neuen Entsenderichtlinie sollen die Vergütungsregeln des Gastlandes für alle entsandten Arbeitnehmer gelten, indem etwa repräsentative Tarifverträge angewandt werden müssen. Mit der ELA steigen die Anforderungen an die EU-Länder, grenzüberschreitend besser zusammenzuarbeiten, beispielsweise gegen Sozialbetrug durch Unternehmen.

Vor diesem Hintergrund ist eine Modernisierung der VO 883 folgerichtig. Woran hakt es? Eigentlich hatten sich EU-Parlament und rumänische Ratspräsidentschaft schon im ersten Halbjahr 2019 geeinigt. Am Ende stimmten jedoch beide Häuser gegen das Verhandlungsergebnis. Die wichtigsten Punkte: Arbeitslosengeld sollte zukünftig weiterhin für drei Monate in ein anderes Land mitgenommen werden dürfen, jedoch mit der Möglichkeit für die EU-Länder, dies für den gesamten Bezugszeitraum zu erlauben. Die Pflegeversicherung sollte als eigenständiger Bereich im Kapitel für Leistungen bei Krankheit koordiniert werden. Lohnersatzleistungen in der Elternzeit sollten nicht einfach übertragbar sein, um erwerbstätige Frauen nicht zu benachteiligen. Kindergeld sollte nicht indexiert werden, was zum Beispiel bedeutet, dass Beschäftigte aus Osteuropa nicht systematisch schlechter gestellt werden dürfen, wenn sie in Deutschland arbeiten, aber ihre Kinder im Heimatland leben. Anerkennung von Beschäftigungszeiten für den Zugang zu Arbeitslosenleistungen sollte es in Zukunft erst geben, wenn eine Person mindestens einen Monat in einem Land gearbeitet hat. Außerdem sollten die EU-Länder verpflichtet werden, bei grenzüberschreitenden Fällen von möglichem Sozialbetrug durch Unternehmen besser zusammenzuarbeiten. All diese Punkte gelten bis heute als relativ unstrittig und wurden in den späteren Verhandlungen nicht mehr angetastet.

Erfolglos verhandelt wurde in den letzten Jahren nur noch über drei strittige Fragen:

1. Sollen Unternehmen, wenn sie sie Beschäftigte zur Erbringung einer Dienstleistung in anderes EU-Land entsenden, den Antrag für ein A1-Formular (den Nachweis über die Sozialversicherung im Heimatland) vor Beginn der Entsendung stellen müssen? Unternehmerverbände und Regierungen aus Ländern, deren Wettbewerbsvorteil auf dem Binnenmarkt in niedrigeren Sozialversicherungsbeiträgen besteht, sagen nein. Ja sagen die Gewerkschaften (besonders im Bausektor) und das EU-Parlament: Viele Entsendungen gehen illegal vonstatten und werden dann rückwirkend legalisiert, wenn es zu einer Kontrolle kommt – ein Einfallstor für systematischen Sozialbetrug.

2. Welche Kriterien sollen auschlaggebend sein, um zu bestimmen, wo ein Beschäftigter sozialversichert ist, der regelmäßig in mehreren EU-Ländern tätig ist? Die Gewerkschaften und das EU-Parlament bestehen auf strikte Kriterien (etwa Arbeitszeit und Ort des Umsatzes eines Unternehmens), um Briefkastenfirmen zu verhindern. Einige Regierungen sträuben sich gegen strikte Kriterien gegen Briefkastenfirmen.

3. Welches Land ist für Arbeitslosenleistungen zuständig, wenn ein Grenzgänger arbeitslos wird? Normalerweise ist für alle Sozialleistungen das Land zuständig, in dem eine Person arbeitet und Beiträge zahlt. Nur bei der Arbeitslosenversicherung für Grenzgänger gibt es bisher eine Ausnahme: Der Wohnstaat ist zuständig. Die EU-Kommission, das EU-Parlament und die meisten EU-Länder wollen dies ändern: Auch Grenzgänger sollten dort alle Leistungen bekommen, wo sie Beiträge gezahlt haben. Eine Minderheit im Rat ist jedoch dagegen, darunter war auch die alte Bundesregierung: Zum einen, um osteuropäischen Grenzgängern bei Arbeitslosigkeit nicht die höheren deutschen Leistungen zahlen zu müssen. Zum anderen, um das deutsche Kontrollsystem („Fördern und Fordern“) uneingeschränkt anwenden zu können. Außerdem sind sich die EU-Staaten nicht einig, für wie lange ein Grenzgänger die Arbeitslosenleistungen in sein Wohnland mitnehmen darf.

Zuletzt haben die slowenische Ratspräsidentschaft und das EU-Parlament sich auf einen Kompromiss zu den drei Fragen geeinigt. Bei Frage 1 sollte zukünftig zumindest für den für Sozialbetrug und Ausbeutung anfälligen Bausektor gelten, dass Unternehmen stets vor Beginn einer Entsendung einen Sozialversicherungsnachweis beantragen müssen. Bei Frage 2 hatte das EU-Parlament die strikteren Kriterien teilweise aufgegeben. Bei Frage 3 sollte das Land der letzten Beschäftigung für Arbeitslosenleistungen zuständig werden, sofern Beschäftigte dort mindestens drei Monate gearbeitet haben. Der Export von Arbeitslosenleistungen in das Wohnland sollte dann für mindestens ein halbes Jahr garantiert werden.

Auch diese vorläufige Einigung scheiterte jedoch im Dezember 2021 im Rat, als neun EU-Länder eine qualifizierte Mehrheit blockierten. Deutschland und vier andere Länder enthielten sich. Ob die französische Ratspräsidentschaft nun einen neuen Verhandlungsversuch unternimmt oder die Kommission ihren fünf Jahre alten Revisionsvorschlag zurückzieht, ist noch nicht ausgemacht. Fest steht, dass die VO 883 zeitnah modernisiert werden muss, um in Zukunft wieder einheitlich die Rechte mobiler EU-BürgerInnen zu schützen und neuen Entwicklungen gerecht zu werden.

1) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/all/?uri=celex%3a52016pc0815

2) https://eur-lex.europa.eu/legal-content/de/txt/pdf/?uri=celex:31958r0003&from=de

3) https://www.europarl.europa.eu/news/de/press-room/20180524ipr04230/entsenderichtlinie-gleicher-lohn-fur-gleiche-arbeit-am-gleichen-ort

4) https://www.ela.europa.eu/de

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Sozialkompass Europa

Der erste Vorläufer des Sozialkompass Europa wurde 1993 als Broschüre veröffentlicht. Sie erschien unter dem Titel „Euro Atlas: Soziale Sicherheit im Vergleich“, herausgegeben vom Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung. Die Broschüre sollte Menschen ermöglichen, sich besser über das soziale Europa und seine Vielfalt informieren können. Im Jahr 2003 wurde der Titel in „Sozialkompass Europa: Soziale Sicherheit im Vergleich“ geändert. Die vergleichenden Tabellen enthalten detaillierte Informationen über die sozialen Sicherungssysteme in 31 verschiedenen Ländern und sind in 12 Kapitel strukturiert: Finanzierung, Krankheit – Sachleistungen, Krankheit – Geldleistungen, Mutterschaft/Vaterschaft, Invalidität, Alter, Hinterbliebene, Arbeitsunfälle und Berufskrankheiten, Familienleistungen, Arbeitslosigkeit, Mindestsicherung und Langzeitpflege. Jede Tabelle ist in mehrere Kategorien unterteilt (Rechtsgrundlage, Anwendungsbereich, Anspruchsbedingungen, Höhe der Leistungen).

https://www.missoc.org/missoc-information/missoc-vergleichende-tabellen-datenbank/?lang=de

Abb.(PDF): Cover