Politische Berichte Nr.1/2022 (PDF)09
EU-Politik

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Europäischer Rechtsrahmen für Mindestlöhne – hin zur staatlich begleiteten Tarifautonomie

Rolf Gehring, Brüssel

Mit Bezug auf die Säule sozialer Rechte, in der „angemessene Mindestlöhne“ ausdrücklich als eine Zielstellung formuliert sind, und vor dem Hintergrund einer weite Teil von Europa umfassenden Abnahme der Tarifbindung hat die Europäische Kommission im Oktober 2020 einen Entwurf für eine EU-Richtlinie zu Mindestlöhnen vorgelegt. Auf ihrer Webseite begründet die Kommission die Vorlage unter anderem folgendermaßen: „Mindestlöhne in angemessener Höhe haben nicht nur eine positive soziale Wirkung, sondern bringen auch umfassende wirtschaftliche Vorteile mit sich, da sie die Lohnungleichheit verringern, zur Stützung der Binnennachfrage beitragen und die Arbeitsanreize stärken. Angemessene Mindestlöhne können auch dazu beitragen, dass geschlechtsspezifische Lohngefälle zu verringern, da mehr Frauen und Männer einen Mindestlohn erhalten, durch die Gewährleistung eines fairen Wettbewerbs würde die vorgeschlagene Richtlinie außerdem jene Arbeitgeber schützen, die angemessene Löhne zahlen.“

Abgesehen davon, dass die Kommission sich mit ihren Begründungen doch weit (und offiziell) von klassischen konservativen Ansätzen und noch deutlicher von dem, was als neoliberale Politik verstanden wird, abwendet, wird eine neue Ausdeutung der Tarifautonomie vorgenommen. Der vorgelegt Rechtsrahmen diskutiert in den einleitenden Erwägungsgründen das Problem der Tarifbindung, definiert ihre tendenzielle Abnahme als unerwünschtes Problem und weist aus, dass dort, wo die Tarifbindung über 70% liegt, die Gefahr von Armutslöhnen deutlich geringer ist. Entsprechend fordert Artikel 4 von den Mitgliedsstaaten Kapazitäten der Sozialpartner aufzubauen, Tarifverhandlungen zu führen. In Ländern, in denen die Tarifbindung weniger als 70% beträgt, sollen zusätzlich konkrete Aktionspläne zur Förderung der Tariffähigkeit erstellt werden. Die Staaten erhalten auch die Aufgabe die Einhaltung der Mindestlöhne zu kontrollieren, Nichteinhaltung zu sanktionieren sowie eine diesbezügliche Datenerhebung aufzubauen. Ein Mindestlohnniveau wird nicht vorgeschlagen, noch werden Staaten verpflichtet einen gesetzlichen Mindestlohn einzuführen. Fokus: Förderung von Tarifverhandlungen.

21 von 27 EU-Staaten haben derzeit einen gesetzlichen Mindestlohn. Nach Vorlage durch die Kommission sprachen sich drei Länder ausdrücklich gegen eine Initiative aus, neun Länder wollten eine rechtlich nicht bindende Empfehlung statt einer Richtlinie. Aber auch in den Gewerkschaften entspann sich eine sehr kontroverse Diskussion. Vor allem die skandinavischen Gewerkschaften (Länder ohne gesetzliche Mindestlöhne) sehen ihre starke institutionelle und politische Rolle gefährdet.

Nach der Vorlage des Entwurfs durch die Kommission haben der Rat und das EP ihre Stellungnahmen vorgelegt. Das Parlament will u. a. eine Zielmarke für die Tarifbindung von 80% in der Richtlinie festschreiben. Mittlerweile haben drei sogenannte Trialog-Verhandlungen (Parlament, Rat und Kommission) stattgefunden. Die Auseinandersetzungen gehen weiterhin auch um den Rechtscharakter des Dokumentes. Parlamentarier fürchten, der Rat will das Dokument weiter abschwächen und konkrete Diskussionen drehen sich ebenfalls um Rechtsbegriffe wie etwa einen „angemessenen“ oder einen „fairen“ Mindestlohn, um die Frage, ob Staaten „fördern“ oder „durchsetzen“ sollen, um die Nichteinbeziehung bestimmter Berufsgruppen (Seefahrer) und weitere Fragen. Die vierte Verhandlungsrunde ist für den 17. Februar terminiert.

https://eur-lex.europa.eu/legal-content/DE/TXT/PDF/?uri=CELEX:52020PC0682&from=ENAbb.(PDF):# Grafik,. Die Mindestlöhne der gelisteten Länder sind hier in Kaufkraftstandards ausgewiesen. Die über einen langen Zeitraum deutliche Dreiteilung mit einer Ländergruppe relativ hoher Mindestlöhne, einer mittleren Gruppe und den mittel- und osteuropäischen Ländern als Gruppe mit niedrigen Mindestlöhnen beginnt stärker zu verschwimmen. Gemessen in Kaufkraftstandards überholen einige mittel- und osteuropäische Länder Griechenland, Portugal und Spanien.

https://ec.europa.eu/eurostat/en/web/products-eurostat-news/-/ddn-20220128-2