Politische Berichte Nr.1/2022 (PDF)18c
Gewerkschaften/Soziale Bewegung

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Niedrige Monatsentgelte: WSI-Studie zeigt hohen Umfang und starke Differenzierung nach Region und Branche

Michael Ohse, Goslar

Anfang Januar 2022 hat das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut der Hans-Böckler-Stiftung (WSI) eine neue Studie veröffentlicht, die einen leichten prozentualen Rückgang von 2011 bis 2020 bei absoluter Zunahme der Vollzeitbeschäftigung feststellt, jedoch die nach wie vor große Bedeutung des Niedriglohnsektors in der Bundesrepublik herausarbeitet, Daten für alle Städte und Landkreise liefert und eine starke Differenzierung nach Region (zwischen 6,3 und 43,2%) und Branche nachweist. Es folgt eine Dokumentation aus dem Pressedienst des WSI vom 6.2.2022 sowie Tabelle und Schaubild aus der Studie.

Der Anteil der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die trotz Vollzeitarbeit ein niedriges Monatsentgelt von weniger als zwei Dritteln des mittleren monatlichen Bruttoarbeitsentgeltes aller sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten bekommen, ist in den vergangenen Jahren zurückgegangen, vor allem in Ostdeutschland. Trotzdem haben auch 2020 bundesweit noch knapp 19 % der sozialversicherungspflichtig in Vollzeit Beschäftigten in diesem nach Definition der Bundesagentur für Arbeit (BA) „unteren Entgeltbereich“ gearbeitet. Dessen Obergrenze lag 2020 bei maximal 2284 Euro brutto monatlich … Die Auswertung zeigt große Unterschiede nach Regionen, Geschlechtern, Branchen und Qualifikation: Während 2020 in Wolfsburg oder Erlangen 6,4 bzw. 8,3 % der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich arbeiteten, galt das etwa in Görlitz oder dem Saale-Orla-Kreis jeweils für spürbar mehr als 40 %. Die höchste Quote weist der Erzgebirgskreis mit 43,2 % auf (siehe auch Tabelle).

Unter den Frauen müssen bundesweit 25,4 % mit einem niedrigen Monatseinkommen trotz Vollzeitarbeit auskommen, unter den Männern 15,4 %. Überdurchschnittlich häufig betroffen sind auch junge Vollzeitbeschäftigte, solche mit ausländischer Staatsangehörigkeit und Personen ohne Berufsabschluss. Besonders ausgeprägt ist der untere Entgeltbereich in Branchen wie dem Gastgewerbe, der Leiharbeit oder der Land- und Forstwirtschaft … Deutschlandweit zählten 2020 nach der Abgrenzung der BA 18,7 % der Vollzeitbeschäftigten zu den Geringverdienenden. Seit 2011 ist dieser Anteil in kleinen jährlichen Schritten von damals 21,1 % kontinuierlich gesunken, gleichzeitig stieg die statistische Zwei-Drittel-Verdienstgrenze um rund 10 %. Der Rückgang fiel in Ostdeutschland deutlich stärker aus als im Westen, allerdings auf einem viel höheren Ausgangs- und Endniveau (Rückgang von 39,3 auf 29,1 % im Osten gegenüber 16,9 auf 16,4 % im Westen; siehe auch Abbildung). Da gleichzeitig bundesweit die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung deutlich wuchs, haben sich die absoluten Zahlen der Betroffenen unterschiedlich entwickelt: Während im Osten die Zahl der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich um gut 320 000 sank, stieg sie im Westen um mehr als 200 000 Personen an.

Obwohl sich der Abstand zwischen West und Ost somit verringerte, bleiben die regionalen Differenzen nach der WSI-Analyse weiterhin groß: Unter den ostdeutschen Stadt- und vor allem den Landkreisen sind Quoten von mehr als 30 % weiterhin relativ häufig. Dagegen bleiben im Westen auch jene vorwiegend ländlich geprägten Regionen mit vergleichsweise hohen Anteilen unter dieser Marke, wenn auch in einigen Kreisen von Niedersachsen, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz und vereinzelt in Bayern nur relativ knapp. Generell ist Vollzeitarbeit im unteren Entgeltbereich in ländlichen Regionen, in denen es vor allem Kleinbetriebe und eher wenig Industrie gibt, stärker verbreitet.

Im bundesweiten Vergleich niedrige Quoten sind dementsprechend meist in Städten bzw. Ballungsräumen zu finden, in denen große Arbeitgeber im industriellen, im Finanz-, im Wissensbereich und der Verwaltung eine wichtige Rolle spielen. Das gilt neben Wolfsburg und Erlangen beispielsweise auch für Stuttgart, Ingolstadt, Darmstadt, Stadt und Landkreis München, den Kreis Böblingen und Städte wie Salzgitter, Ludwigshafen, Frankfurt am Main, Karlsruhe oder Bonn, wo zwischen rund neun und rund 11 % der Vollzeitbeschäftigten im unteren Entgeltbereich arbeiten. Ländlichere Regionen mit relativ niedrigen Quoten finden sich am ehesten in Baden-Württemberg. Unter den größten deutschen Städten weisen auch Köln, Düsseldorf und Hamburg Geringverdiener-Anteile deutlich unter dem bundesweiten Durchschnitt von 18,7 % auf, während Berlin mit 19,2 % knapp darüber liegt.

Diese regionale Verteilung korrespondiert mit weiteren Mustern, die Seils und Emmler bei der Datenanalyse beobachten: Der Anteil der Geringverdienste liegt bei Vollzeitbeschäftigten ohne Berufsabschluss bei 40,8 %, bei Beschäftigten mit beruflichem Abschluss bei 17,8 und bei Personen mit Hochschulzertifikat bei lediglich 4,9 %.

Auch die Branchenverteilung spielt eine wichtige Rolle: Im Gastgewerbe (68,9 %), in Leiharbeit (67,9 %) und Land- und Forstwirtschaft (52,7 %) arbeiten mehr als die Hälfte der Vollzeitkräfte im unteren Entgeltbereich (siehe auch Abbildung).

„Unsere Analyse zeigt einerseits einige positive Tendenzen: In den letzten Jahren ist es gelungen, den unteren Entgeltbereich zurückzudrängen“, fasst Helge Emmler die Befunde zusammen. Dies gelte insbesondere für Ostdeutschland. Allerdings sei vor allem dort der untere Entgeltbereich weiterhin stark verbreitet und zugleich die Tarifbindung weit niedriger als im Westen. „Die geplante Anhebung des Mindestlohnes auf 12 Euro ist sicherlich ein Schritt in die richtige Richtung. Um hier weiterzukommen, ist darüber hinaus eine Stärkung der Tarifbindung erforderlich“, so Emmler.

*Eric Seils, Helge Emmler: Der untere Entgeltbereich. WSI Policy Brief Nr. 65, Januar 2022. Download: Unterer Entgeltbereich – Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliches Institut (wsi.de)

Beschäftigung im unteren Entgeltbereich: Die jeweils zehn Stadt- und Landkreise mit den bundesweit niedrigsten / höchsten Anteilen bei Vollzeitbeschäftigten

Abb.(PDF): Tabelle / Grafik