Politische Berichte Nr.2/2022 (PDF)05
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

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Die Aggression der Russischen Föderation gegen die Ukraine schafft eine Militärgrenze vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer

Im Programm der Linken steht die Forderung nach Begrenzung von Rüstung durch Konzentration auf „strukturelle Nichtangriffsfähigkeit“. Träumerei oder realistisch?

Martin Fochler, München

Das langfristige Ziel des Angriffs der Russischen Föderation auf die Ukraine war und ist weiter die Okkupation. Der militärische Operationsplan sah die Eroberung der Landeshauptstadt, Sturz der bestehenden und Einsetzung einer dazu passenden Regierung vor. Der Plan beruht auf irrigen Annahmen über den Rückhalt von Staat und Militärkräften in der Bevölkerung des Landes und politische Meinungsbildung der globalen Welt. Das Militär der Ukraine konnte den Angriff der nach Zahl und Ausrüstung weit überlegenen Angreifer durch den Einsatz von Panzer- und Luftabwehrwaffen zum Stehen bringen. Diese Art der Gegenwehr konnte im ganzen Aufmarschraum der Invasionstruppen wirksam werden, da die modernen Kommunikations- und Beobachtungssysteme Bewegungen und Standorte militärischen Großgeräts erkennbar machen. Dabei spielen nicht nur die bildgebenden Verfahren der Sattelitentechnik eine Rolle, die Militäreinrichtungen des Auslandes zu Verfügung stellten. Noch wirksamer dürften die zeitnahe Übermittlung von Beobachtungen der vielen unter Nutzung des Mobilfunks gewesen sein. So konnten die beweglichen ukrainischen Militärkräfte mit einem ganz erheblichen Informationsvorsprung operieren. Neben den auf kurze Distanz wirkenden Abwehrwaffen hat diese Informationslage auch den Einsatz von bewaffneten Drohnen ermöglicht.

Wie bekannt hatte die ukrainische Regierung in den ersten Wochen der Invasion dringlich um die Sperrung des Luftraums durch militärisches Eingreifen von Nato-Kräften gebeten. Im Kriegsverlauf hat sich dann herausgestellt, dass es den russischen Invasionstruppen einerseits möglich war, die ohnehin schwachen Luftstreitkräfte der Ukraine am Boden zu halten, andererseits aber die Aufstellung der ukrainischen Luftabwehr der russischen Seite den Einsatz von Fluggeräten für Versorgung und Unterstützung von Gefechten am Boden erschwerte bis unmöglich machte.

Die russische Armeeführung setzte in dieser Situation auf den Schrecken und die Todesfurcht, die kaum abzuwehrende Raketenbombardements auf Siedlungen verbreiten, und auf das Mittel der mörderischen Repressalien gegen Zivilbevölkerung der Orte in ihren Aufstellungsräumen. Derartige Verbrechen sind aus der Kriegsgeschichte, namentlich der deutschen, bekannt. Diese gesteigerte Brutalität hat den Widerstand von Militär und Bevölkerung der Ukraine nicht gebrochen. Die Regierung Putin musste die Belagerung Kiews aufgeben, zu Waffenstillstandsverhandlungen sah sie sich deswegen aber nicht genötigt. Sie hat aber ihren Kriegsplan geändert und versucht nun auf Basis der von ihr beherrschten Räume –Teile der Donezregion und der Krim – eine feste Frontlinie immer mehr auf das Gebiet der Ukraine vorzuschieben. Siedlungen, die diesem Plan im Wege stehen, werden nicht mehr erobert und besetzt, sondern im schrecklichen Sinne des Wortes ruiniert und vernichtet.

Damit ändert sich die strategische Situation. Das ukrainische Militär kann nun nicht mehr vor (schwer einnehmbaren) Stadträumen und (schwer angreifbar und hoch beweglich) hinter den Linien eines Belagerungsringes wirken. Sie muss ihrerseits versuchen, eine Frontlinie zu bilden, und wird dadurch leichter angreifbar. Wird es den ukrainische Militärkräften gelingen, sich auf diese neue Situation einzustellen? Die Schwierigkeiten zeigen sich am Fall der Stadt Mariupol. Es zeichnet sich ab, dass die russischen Armeen eine Frontlinie errichten wollen, die vom russischen Staatsgebiet im Norden bis nach Odessa und an die Grenzen Moldawiens reichen soll. Das ukrainische Militär wird dem Vormarsch auf dieser lang gestreckten Linie Widerstand entgegensetzen können. Außer Landes drängen kann sie die Invasionstruppen nicht. Das ukrainische Militär muss vielmehr darauf bedacht sein, beweglich zu bleiben und sich nicht einkreisen zu lassen.

In Nato-Kreisen rechnet man zurzeit mit einer langen Fortdauer der Kriegshandlungen. Die Staaten der Nato bekunden ihrer Bereitschaft zu fortdauernden Waffenlieferungen. Die Politik der Sanktionen, die – nicht nur – von den Nato-Staaten getragen wird, entwickelt sich Zug um Zug zum umfassenden Embargo. Finnland und Schweden intensivieren ihre Bindung an die Nato. Vom Nordkap bis zum Schwarzen Meer entsteht eine hochgerüstete Militärgrenze, die auf dem Gebiet der Ukraine als umkämpfte Demarkationslinie besteht. Und eine Kernfrage der nächsten Monate ist es, ob und an welcher Linie die Russische Föderation wenigstens zur faktischen Anerkennung einer Demarkationslinie als Grenze genötigt werden kann.

Die Angriffsbewegung auf Odessa, durch die im Erfolgsfall die übrige Ukraine vom Meerzugang abgeschnitten und ihr wirtschaftliches Überleben gefährdet würde, lässt erkennen, dass die russische Regierungspolitik nach wie vor auf die Destabilisierung und Unterwerfung des ganzen Landes zielt. Der bisherige Kriegsverlauf legt aber nahe, dass dieser Plan scheitern wird, weil er den Menschen im Okkupationsgebiet keine annehmbare Zukunft bietet und internationale Normen verletzt, die für das Funktionieren der vielfach verflochtenen Weltgesellschaft unentbehrlich sind.

Der erfolgreiche Widerstand der Ukraine eröffnet aber auch politische Perspektiven. Ein – im Verhältnis zum Aggressor – kleines Land kann sich verteidigen. Eine Großmacht kann scheitern, wenn sie sich in der Weltgesellschaft isoliert. Die – unsicheren, aber nicht völlig unrealistischen – Vermutungen ermöglichen – mitten im Krieg – eine neue weltweite Abrüstungsdiskussion. In Zentrum stünden dabei die Systeme des atomaren Erstschlags, den sich die Militärdoktrin der USA und der Nato offenhält. Eine Absage an diese Rüstungsmittel könnte in die Forderung nach Ächtung der atomaren Rüstung führen.

Die politischen Zumutungen des Aggressors, seine Gebietsansprüche und seine Herrschaftsmethoden und seine weitreichenden Okkupationsziele werden nicht zu einer befriedeten, anerkannten Grenzziehung führen. Möglich ist allerdings, dass die Verteidigung der Ukraine die Kräfte des Aggressors ermüdet, so dass die Kampfhandlungen an einer Demarkationslinie zum Stillstand kommen, ein Beispiel für einen solchen Verlauf bietet die Grenze zwischen Nord- und Südkorea.

Die Ukraine sucht und findet in diesem Fall Unterstützung ihrer nahen und ferneren Nachbarstaaten, die sich bedroht und zur Aufrüstung gedrängt fühlen. Es sollte möglich sein – oder wenigstens versucht werden – diese Rüstungsprozesse politisch auf den Pfad der „militärischen Nichtangriffsfähigkeit“ zu drängen.

#+# Eine sehr informative, täglich aktualisierte Karte zur Entwicklung der militärischen Situation (auch umschaltbar auf Deutsch) findet sich unter liveuamap.com. Bild: Ausschnitt vom 11.4.2022.