Politische Berichte Nr.2/2022 (PDF)13
Aus Kommunen und Ländern

* 13-solidarische-aufnahme-unkrainiefluechtlinge-jannoff-02.html * 15-kommunale-aufnahme-gefluechteter-giesecke-2.html * 16-kommunale-politik-fuer-gefluechtete-jaeckel-2.html

Solidarische Aufnahme von Ukraine-Flüchtlingen als Vorbild

01 Städtetag: „Städte stehen fest an der Seite der Ukraine – Geflüchtete besser verteilen – Integration in Schule und Kita umsetzen“
02 Pro Asyl: Freie Wahl für die einen, Dublin-Zwang für die anderen?

Thorsten Jannoff, Gelsenkirchen

Katja Kipping (Die Linke), Senatorin für Integration, Arbeit und Soziales in Berlin, hat in einem Interview mit dem „Handelsblatt“ am 26. März eine schnelle Anerkennung von Berufsabschlüssen gefordert, um Ukraine-Flüchtlinge rasch in den Arbeitsmarkt integrieren zu können sowie eine faire Aufteilung der Kosten zwischen Bund, Ländern und Kommunen. Sie sieht es kritisch, dass die Bundesregierung Geflüchtete sozialrechtlich nach dem Asylbewerberleistungsgesetz absichern will: „Wir wollen, dass die Menschen über die Leistungen des Sozialgesetzbuchs II versorgt werden. Über diese Grundsicherung wäre der Zugang zu Integrationskursen, Sprachkursen, Arbeitsmarktmaßnahmen und auch zum Arbeitsmarkt viel leichter und schneller möglich. Ein solche Regelung würde auch zu einer erheblichen Entlastung der bezirklichen Sozialämter führen.“ Außerdem fordert sie eine unbürokratischere Registrierung und eine gleichmäßige Verteilung auf die Länder.

Diese Forderungen stellt auch der Deutsche Städtetag auf, siehe Pressemeldung vom 30.3.2022.

Pro Asyl fordert zudem die freie Wahl des Schutzlandes und Freizügigkeit auch für alle anderen Geflüchtete sowie die Abschaffung des Dublin-Systems, siehe Pressemeldung vom 1.4.2022. Gesine Schwan (SPD), Präsidentin der Humboldt-Viadrina Governance Platform macht einen Reformvorschlag zur Demokratisierung der kommunalen Aufnahme Geflüchteter und der Rechtsanwalt Michael Faber hat ein Rechtsgutachten erstellt, zur Zulässigkeit kommunaler Unterstützung von Initiativen, die sich für die Seenotrettung von geflüchteten Menschen im Mittelmeer einsetzen, siehe Artikel von Gabriele Giesecke S. 15.

01

Städtetag: „Städte stehen fest an der Seite der Ukraine – Geflüchtete besser verteilen – Integration in Schule und Kita umsetzen“

Der Deutsche Städtetag fordert Bund und Länder auf, sehr schnell die angekündigte bessere Registrierung und Verteilung der Flüchtlinge aus der Ukraine umzusetzen. Außerdem müsse schon jetzt die Integration angepackt werden, etwa in Schulen und Kitas. Für die Kostenerstattung für die Kommunen seien schnelle Entscheidungen nötig. Das machte der Präsident des Deutschen Städtetages, Oberbürgermeister Markus Lewe aus Münster, nach einer Präsidiumssitzung des kommunalen Spitzenverbandes deutlich.

„Weil die Flüchtlingsbewegung eine hohe Dynamik hat, müssen wir uns aber in Deutschland auch besser abstimmen. Deshalb haben wir einen Flüchtlingsgipfel von Bund, Ländern und Kommunen gefordert. Wir begrüßen, dass der Bund diese Forderung mit seiner Einladung an die kommunalen Spitzenverbände zumindest teilweise aufgreift. Wir brauchen verbindliche Absprachen für die schnelle Verteilung und Registrierung der Flüchtlinge, für die Integration und die Kostenübernahme. Das werden wir am Freitag in unserem Gespräch beim Bundeskanzler deutlich machen.“

Schneller registrieren, gerechter verteilen

Bei der Registrierung sei ein erster Schritt, dass mobile Teams des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Registrierung der geflüchteten Menschen vor Ort unterstützen. Noch besser wäre es, wenn Bund und Länder die Geflüchteten bereits während ihrer Anreise und in den Erstaufnahmeeinrichtungen registrieren. „Der Bund und die Länder sollten technisch, personell und organisatorisch ihre Kapazitäten für die Registrierung ausbauen und das Verfahren überprüfen. Viele geflüchtete Menschen haben bereits biometrische Pässe, so dass an ihrer Identität kein Zweifel besteht. Zumindest für diese Gruppe sollte die Registrierung weiter vereinfacht werden. Dann würde es viel schneller gehen“, forderte Lewe. Derzeit dauere selbst die vereinfachte Registrierung noch je Person rund 45 Minuten.

Der Städtetagspräsident plädierte für eine schnelle Integration von Kindern in Schulen und Kitas:

„Rund die Hälfte aller Geflüchteten sind nach Schätzungen Kinder, die schulpflichtig sind oder bald einen Kitaplatz benötigen. Deshalb müssen Bund und Länder die Städte unterstützen und helfen, Kapazitäten bei Kinderbetreuung und Schule sehr zügig auszubauen. Wir brauchen mehr Lehrpersonal und Erzieherinnen, mehr Räume und Gebäude für Willkommensklassen und zusätzliche Kitagruppen.“

Kommunen von Flüchtlingskosten entlasten – Grundsicherung nach SGB II anwenden

Die Städte sprechen sich dafür aus, den geflüchteten Menschen aus der Ukraine Zugang zu den Sozialleistungen der Grundsicherung nach dem Sozialgesetzbuch II zu verschaffen. „Die Geflüchteten können von Anfang an in Deutschland arbeiten. Damit das gelingt, brauchen wir aber auch die üblichen arbeitsmarktpolitischen Instrumente, wie Sprachkurse und Qualifizierung. Deshalb wäre es ein guter Weg, wenn für die Geflüchteten aus der Ukraine das Sozialgesetzbuch II gilt. Damit wird ihnen eine Qualifikation zur Arbeitsaufnahme ermöglicht und der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert. Und den Menschen kann mit Leistungen der Krankenversicherung und der Pflegeversicherung geholfen werden, wenn es nötig ist“, so Kämpfer.

https://www.staedtetag.de/presse/pressemeldungen/2022/wir-brauchen-einen-fairen-lastenausgleich

02

Pro Asyl: Freie Wahl für die einen, Dublin-Zwang für die anderen?

Im Zuge der Flucht aus der Ukraine geht die EU in der europäischen Flüchtlingspolitik aktuell neue Wege, die vor wenigen Wochen noch für viele Politiker*innen undenkbar waren. Die freie Wahl des Schutzlandes wird von Menschenrechtsorganisationen schon lange gefordert, sie muss nun konsequent für alle gelten.

Seit mehr als vier Wochen herrscht Krieg in der Ukraine – und die europäische Flüchtlingspolitik steht Kopf. Während größere Entscheidungen im Bereich Asyl und Migration nach 2015 in der Europäischen Union jahrelang nicht möglich waren, einigten sich die zuständigen Innenminister*innen am 3. März 2022 einstimmig (!) auf die erstmalige Anwendung der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz, auch bekannt als Massenzustromrichtlinie.

Freie Wahl des Schutzlandes für Geflüchtete aus der Ukraine

Die Anwendung der Richtlinie führt zu schnellem Schutz für Menschen, die aus der Ukraine geflohen sind. Der Ratsbeschluss regelt darüber hinaus aber auch eine neue Praxis, nämlich dass Ukrainer*innen sich das Land, in dem sie vorübergehenden Schutz erhalten, selbst aussuchen können. Dies steht im scharfen Kontrast zu den sonstigen Regelungen der europäischen Flüchtlingspolitik. Denn laut der sogenannten Dublin-III-Verordnung sind Personen, die einen Asylantrag stellen, verpflichtet, dies in dem Mitgliedstaat zu tun, in den sie als erstes einreisen. Die allermeisten Menschen auf der Flucht können sich also nicht aussuchen, ob sie in Frankreich, Schweden oder Deutschland einen Asylantrag stellen und später leben möchten.

Sie müssen den Antrag stattdessen direkt nach Einreise stellen – und da es kaum legale Einreisemöglichkeiten und Visa für Fliehende gibt, müssen sie dies meist in einem Mitgliedstaat an einer EU-Außengrenze wie Griechenland oder Italien tun, den sie zum Beispiel per Boot erreichen können.

Das führt nicht nur zu einem unfairen Ungleichgewicht an Verantwortung zwischen den Mitgliedstaaten, sondern auch zu viel Leid und Frustration bei den Menschen. Denn zum einen sind die Bedingungen gerade in den Mitgliedstaaten mit Außengrenze sehr schlecht für Asylsuchende und Flüchtlinge, zum anderen drohen bei entsprechender Weiterflucht innerhalb Europas Rückführungen in den zuständigen Mitgliedstaat.

Zivilgesellschaftliche Forderung seit 2013: Free Choice!

Das Dublin-System steht aufgrund dieser Probleme schon lange in der Kritik. Anstatt schutzbedürftigen Menschen schnell in Europa Schutz zu bieten, verzögert es bei Weiterreise den Zugang zu Schutz oft über Monate.

Schon im März 2013 hat Pro Asyl deswegen gemeinsam mit AWO – Arbeiterwohlfahrt Bundesverband e.V., Der Paritätische Wohlfahrtsverband – Gesamtverband e.V., Deutscher Anwaltverein, Diakonie Deutschland, Jesuiten-Flüchtlingsdienst und Neue Richtervereinigung e.V. in einem Memorandum zur Flüchtlingsaufnahme in der Europäischen Union folgendes gefordert:

„Um ein gerechtes und solidarisches System der Aufteilung der Verantwortlichkeit für Flüchtlinge in der Europäischen Union zu etablieren, das gleichzeitig die Anliegen der Flüchtlinge berücksichtigt, ist ein Systemwechsel erforderlich. Das Prinzip der freien Wahl des Mitgliedstaates für Asylsuchende verbunden mit einem europäischen Ausgleichfonds, der auf solidarischen und gerechten Grundsätzen beruht, bietet eine Lösung, mit der die aufgezeigten Strukturfehler abgebaut werden können.“ (S. 7 des Memorandums)

Diese Forderungen wurden auch in die verschiedenen Versuche von Reformprozessen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems eingebracht. Doch bislang beharrten die Europäische Kommission und die meisten Mitgliedstaaten darauf, dass entweder an dem Ersteinreisekriterium festgehalten werden soll oder dass es feste Verteilungsquoten geben sollte.

Ebenso wichtig: Freizügigkeit nach Schutzstatus

Doch die freie Wahl des Mitgliedstaats, in dem Geflüchtete Schutz bekommen wollen, ist nur der erste wichtige Schritt. Die nächste entscheidende Frage ist, inwieweit Freizügigkeit nach der Anerkennung gewährleistet ist.

Unionsbürger*innen können in jedem Land der Europäischen Union wohnen und arbeiten so lange wie sie wollen. Das ist durch die Niederlassungsfreiheit und die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die zu den Grundfreiheiten der Europäischen Unionzählen, sichergestellt. Doch für Menschen, die im Asylverfahren einen Schutzstatus zugesprochen bekommen, gilt dies nicht. Mit dem Aufenthaltstitel, den sie bekommen, können sie zwar für drei Monate innerhalb von sechs Monaten im Schengen-Raum reisen, sie können sich aber nicht darüber hinaus niederlassen und arbeiten.

Erst nach fünfjährigem rechtmäßigem Aufenthalt in einem EU-Mitgliedstaat und wenn weitere Voraussetzungen erfüllt sind, kann eine Erlaubnis zum Daueraufenthalt in der EU erteilt werden, über den man auch eine Aufenthaltserlaubnis in einem anderen Mitgliedstaat bekommen kann. Wenn eine Person entgegen diesen Regelungen doch versucht, sich in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, kann es zu innereuropäischen Abschiebungen kommen. Damit ist es für das spätere Leben in der Europäischen Union entscheidend, in welchem Mitgliedstaat man seinen Asylantrag stellen muss.

Für aus der Ukraine geflohene Menschen, die den vorübergehenden Schutz bekommen, gelten zunächst einmal ähnliche Regeln. Allerdings soll es laut dem Ratsbeschluss nicht zu innereuropäischen Abschiebungen kommen, denn die Mitgliedstaaten haben sich darauf geeignet, Artikel 11 der Richtlinie über den vorübergehenden Schutz, der Abschiebungen ermöglicht, nicht anzuwenden (Erwägungsgrund 15 des Ratsbeschlusses). Also weniger Zwang, aber weiterhin bei Weiterreise keine Rechte? Wie sich dies genau gestalten wird, bleibt wohl abzuwarten, da auch die politischen Entscheidungen weiterhin dynamisch sind.

Aus der aktuellen Situation lernen: Das Zwangssystem Dublin endlich abschaffen!

So manche bisherigen Glaubensgrundsätze vieler europäischer Regierungen in der Flüchtlingspolitik scheinen mit Blick auf die Flucht aus der Ukraine – die besonders offensichtlich macht, dass starre Systeme wie das Dublin-System nicht funktionieren – über Bord geworfen zu sein.

Die Erkenntnis, dass es viele Vorteile bringen kann, wenn schutzsuchende Menschen sich ihren Schutzort selbst aussuchen können, muss nun aber insgesamt in der europäischen Asylpolitik adaptiert werden. Während die ganze Welt auf die Ukraine schaut, wird in Brüssel weiter über den New Pact on Migration and Asylum verhandelt, der das bestehende europäische Asylrecht reformieren soll. Doch bislang sehen die diskutierten Vorschläge zu einer Asyl-und Migrationsmanagement-Verordnung keine grundsätzliche Abkehr vom Dublin-System oder schnellere Freizügigkeit vor.

Dass dies notwendig wäre, macht die aktuelle Situation mehr als deutlich – und auch, dass es tatsächlich möglich ist!

https://www.proasyl.de/news/freie-wahl-oder-dublin-zwang/

Abb. (PDF): Logo Städtetag

Abb. (PDF): Aufkleber PRO ASYL

Abb. (PDF): Austellung (interaktiv:) Menschen und Rechte sind untelibar

https://www.proasyl.de/material/menschen-rechte-sind-unteilbar/