Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)25
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Frühjahrsoffensive der Russischen Föderation setzt ein. Bleibt sie stecken, entsteht eine Chance für politische Verhandlungen.

Martin Fochler, München

Der unter wechselnden Strategien nun schon ein Jahr fortdauernde Angriff auf die Ukraine lässt befürchten, dass die RF erst verhandeln wird, wenn ihre militärischen Operationen stecken bleiben und keine Möglichkeit zur militärischen Eroberung der Herrschaft über die ganze Ukraine besteht. Eine solche Situation kann entstehen, wenn die sogenannte Frühjahrsoffensive stecken bleibt.

Vor einem Jahr gruppierte die Russische Föderation Armeegruppen zum Angriff auf die Zentren der Ukraine. Kriegsplan eins, die groß angelegte Militäroperation zur Besetzung Kiews, blieb im Aufmarsch stecken, ebenso der Angriff auf das sehr nahe zu Russland gelegene Charkiw, einer Stadt, in der die russisch sprechende Bevölkerung überwiegt. Die Operationen scheiterten politisch, weil sie in den betroffenen Gebieten auf Ablehnung und Widerstand der Bevölkerung stießen, militärisch, weil sich zeigte, dass eine auf Panzer- und Luftabwehr eingestellte Verteidigung den Angriff einer großen Armee auf eine große Stadt abschlagen kann.

Die Russische Föderation antworte darauf mit einem Wechsel der Methode. Kriegsplan zwei zielte auf die Errichtung einer von der ukrainischen-russischen Nordgrenze bis zum Schwarzen Meer durchgehenden klassischen Front, die der freien Ukraine den Zugang zum Asowschen Meer abschneiden und eine Landverbindung zwischen der annektierten Krim und den bereits besetzten Gebieten Donezk und Luhansk herstellen sollte. Voraussetzung dessen war die Eroberung von Mariupol. Hier zeigten sich die Grenzen der im Raum Kiew und Charkiw so erfolgreichen Verteidigung großer Ballungszentren. Da die Marine der RF das Asowsche Meer beherrschte, war die von etwa einer halben Million Menschen bewohnte Stadt von vorneherein zur Hälfte eingekreist. Die Landwege zu den Zentren der freien Ukraine sind weit und führen durch dünn besiedelte Gebiete, was großräumige Operationen erschwert. So konnte Mariupol von der freien Ukraine abgeschnitten, ruiniert und erobert werden, und mit dem Fall der Stadt hatte die RF eine Landverbindung zur Krim hergestellt. Damit war eine lange Front durch die Ukraine gezogen, zu deren Konsolidierung einige sogenannte Frontbegradigungen nötig wurden. So räumte die RF die im Seegebiet vor Odessa gelegene Schlangeninsel, so gab sie die große Stadt Cherson auf und zog sich auf das östliche Ufer des Dnjepr zurück und so räumte sie auch eine Reihe kleinerer Ort entlang der Front.

Diese Frontbegradigung konnte als strategische Wende zugunsten der Ukraine verstanden werden, allerdings warnten viel Stimmen, vor einer Mobilisierung der im Vergleich zur Ukraine riesigen strategischen Reserven, und es sollte sich zeigen, dass die Regierung Putin in der Lage war, diese Mobilisierung politisch / organisatorisch durchzuziehen, wenn sich auch eine große Zahl Dienstpflichtiger dieser Zumutung durch Abreise ins nahe und ferne Ausland entzogen. Am Ende stellt sich heraus, dass die Truppen und Hilfstruppen der RF die Front halten und die Besatzung aufrechterhalten konnten.

Damit trat auch eine Schwäche der ukrainischen Kriegführung zu Tage. Für die Verteidigung aus der Deckung dicht besiedelter Gebiete geübt und gerüstet, waren sie nicht in der Lage, die mit gepanzerten Truppen gesicherte Front der Besatzungsmacht zu durchstoßen, während umgekehrt die schwer bewaffneten Truppen der RF befürchten müssen, sich bei einem Vorrücken im Kreuzfeuer einer großflächig verteilten, auf Siedlungskerne gestützten Abwehr zu verfangen. Diese Lage hätte in Verhandlungen münden können.

Stattdessen beschritt die Regierung Putin den Weg einer weiteren Eskalation. Politisch, indem sie den Anschluss von besetzten Gebieten in der Ostukraine an die Russische Föderation betrieb, was unter Protest der Weltöffentlichkeit und der UNO-Vollversammlung vollzogen wurde. Militärisch durch breit angelegte Drohnen- und Raketenangriffe auf die Infrastruktur, die das gesamte Land trafen und dessen Bevölkerung durch Kälte, Dunkelheit Zusammenbruch der Daseinsvorsorge und ständige Lebensgefahr demoralisieren sollten. Diese Strategie konnte eine Lücke in der Luftabwehr der freien Ukraine ausnutzen, obwohl gegen Luftfahrzeuge äußerst wirksam, war sie für Fernlenkwaffen nicht undurchdringlich.

Auch an der weit über tausend Kilometer langen Frontlinie nutzte der neue Kriegsplan eine Lücke aus. Das Netz der mit wirksamen Panzer- und Luftabwehrwaffen ausgestatteten Kräfte der Ukraine konnte zwar Angriffe von Truppen auffangen, war aber nicht so gerüstet, dass es möglich gewesen wäre, die mit Panzertruppen gesicherte Frontlinie zu durchbrechen. So konnte die RF-Truppen zum Angriff auf Bachmut konzentrieren und der Verteidigung eine Abnutzungsschlacht aufzwingen. Die Konzentration der für diese Angriffsschlacht erforderliche Übermacht wäre der RF nicht möglich, wenn sie auf ihrer ganzen lang Front Vorstöße adäquat, d.h. mit Panzern, ausgerüsteter ukrainische Truppen befürchten müsste.

Zum Verständnis der militärischen Logik einer Abnutzungsschlacht mag die Begründung helfen, die der Chef der obersten Heeresleitung, v. Falkenhayn, 1916 für den Angriff auf die Festung Verdun gab. Es geht dabei kurz gesagt darum, dass bei gleichbleibenden Verlusten auf beiden Seiten im Verlauf der Kampfhandlungen die Seite mit den größeren strategischen Reserven immer stärker wird. (Aus 500:1500, also einem Verhältnis von 1 zu 3, wird bei Verlusten von je 250 ein Verhältnis von 250:1250, also 1:5) Wenn es der stärkeren Seite, z.B. durch Konzentration gewaltiger Feuerkraft, gelingt, die Opferrate zu ihren Gunsten zu verändern, steht das Ziel des „Ausbluten“ oder „Weißbluten“ des Gegners (ein Ausdruck den Falkenhayn verwendete).

Der dritte aktuelle Kriegsplan der RF überzieht das ganze Land mit Terror, auch wenn ein wachsender Teil der Drohnen- und Raketenangriffe abgewehrt werden kann, bleiben die physischen Schäden groß und das Leben unter permanenter Lebensgefahr entnervend. Parallel dazu erzwingt der Aggressor an ausgewählten Punkten Abnutzungsschlachten, die mit der vollen Verwüstung der verteidigten kleineren Siedlungen verbunden sind. Die RF ist, wie es scheint, in der Lage, die erheblichen Opfer eigener Kräfte auszuhalten und die auf Luft- und Panzerabwehr gut eingestellten Kräfte der freien Ukraine können überwunden werden.

Aus dieser Situation erklärt sich, dass die politische Führung der RF ihren Angriff auf die Unabhängigkeit der ganzen Ukraine nicht aufgeben will. Sie kann sich vornehmen, den Widerstandspunkte der ukrainischen Seite, der sich auf die Verteidigung von Siedlungen stützt, Punkt um Punkt zu aufzureiben und mit dieser Strategie nicht nur die Front immer weiter nach Westen zu verschieben, sondern durch blutige Abnutzungsschlachten das Kräfteverhältnis zu Gunsten der Invasionsarmee zu verschieben.

Eine Verhandlungssituation kann erst entstehen, wenn auch dieser dritte Kriegsplan an Grenzen gestoßen ist und das wird der Fall sein, sobald und soweit die freie Ukraine die Mittel zur strategischen Verteidigung entwickelt. Die Abwehr der Drohnen- und Raketenangriff ist davon die eine Komponente, die Fähigkeit, Aggressoren nicht nur beim Angriff auf Siedlungen, sondern auch im Gelände zu stellen, die andere. Hilfslieferungen zur Verbesserung der Luftverteidigung sind in der Öffentlichkeit nicht umstritten, wohl aber Panzer, d.h. Mittel für die bewegliche Kriegführung.

Die Ukraine hat bis zum heutigen Tag sehr sorgsam vermieden, Kampfhandlungen auf das Gebiet der RF zu tragen. Unausgesprochen ist das wohl auch eine Bedingung für die Unterstützungsleistungen, die das Land aus so vielen anderen Ländern enthält (anlässlich der jüngsten Ramstein-Konferenz war die Rede von 50 Staaten). Tatsächlich wäre die ukrainische Armee nach Ausrüstung und Übung zu solchen Operationen gar nicht in der Lage. Sie würde immer auf weit überlegene Panzertruppen stoßen. Die jetzt begonnene Ausbildung und versprochene Lieferung solcher Waffen würden allerdings die Besatzungsmacht zwingen, auf der langen Frontlinie ihrerseits gepanzerte Kräfte vorzuhalten. Sie würden aber nach keiner seriösen Rechnung ausreichen, um die Truppenmassen, die die RF im besetzten Teil des Landes unterhält, zu stellen bzw. zum Rückzug zu zwingen. Sie kann mit Mühe und Not und unter vorhersehbar großen Opfern erreichen, dass die RF das Konzept der Punkt-für-Punkt-Ruinierung ukrainischer Siedlungen aufgeben und sich auf das Halten einer Frontlinie konzentrieren muss. Gelingt das, ist vorstellbar (aber keineswegs sicher), dass die Russische Föderation ein Waffenstillstands-/Verhandlungsangebot vorlegt, in dem sie von ihrem Anspruch auf Beherrschung der ganzen Ukraine abrückt. Es gibt Anzeichen dafür, dass die Russische Föderation ihren Kampf gegen eine EU-Mitgliedschaft der Ukraine aufgeben könnte. Immerhin wurde der jüngste Besuch der EU-Kommission in Kiew nicht von einem Raketenhagel begleitet, und das dürfte nicht nur an der Abwehrleistung der ukrainischen Luftverteidigung gelegen haben.

Abb.(PDF): Karte zum Frontverlauf, https://liveuamap.com/de