Politische Berichte Nr.02/2024 (PDF)04b
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

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Kann die Ukraine der Aggression standhalten?

Martin Fochler, München. Der Angriff auf einen vorbereiteten Gegner ist hoch riskant. Für diesen Erfahrungssatz der Kriegsgeschichte lieferte die Russische Föderation ein weiteres Beispiel, als sie im Februar 2022 antrat, um schnell auf die Zentren der Ukraine vorzustoßen und einen Regimewechsel zu erzwingen. Die Ukraine konnte die Invasion zurückdrängen, im Osten jedoch setzte sich die Invasionsarmee fest. Anfang 2023 musste die Ukraine, die durch monatelangen konzentrierten Beschuss völlig ruinierte Stadt Bachmut aufgeben. Im weiten Verlauf scheint die Frontlinie wie eingefroren, leider nicht in Folge abklingender Kampfhandlungen, sondern als Ergebnis großer Abwehrleistungen der ukrainischen Armee. Die Lenkwaffenangriffe auf das ganze Land kann die Luftabwehr so weit abfangen, dass die Wirtschaft und Landesverteidigung weiterlaufen, es bleibt der Terror gegen die Zivilbevölkerung, die ständiger Lebensgefahr ausgesetzt ist.

Würde sich die RF darauf verlegen, das Gebiet in dem sich festgesetzt hat, zu halten, so wäre die Ukraine nicht in der Lage, ihrerseits zum Großangriff anzutreten, wie das Scheitern der Sommeroffensive im letzten Jahr belegt, sie hat dafür die Kräfte nicht. Die Regierung Putin könnte unter solchen Umständen einen Waffenstillstand anbieten, bleibt aber im Angriffsmodus. Da die Verfassungsorgane der RF im Oktober 2022 die Aufnahme der Regionen Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson in die RF abgesegnet haben, kann die Regierung Putin den Krieg innenpolitisch als Akt der Landesverteidigung legitimieren und die Verteidigung der Ukraine als Akt der Aggression gegen Territorien der RF brandmarken. Dieser politischen Vorgabe folgt die Militärstrategie.

So steht aktuell nicht die Frage im Raum, sollte die Ukraine verhandeln, sondern, kann die Ukraine die bisher zurückgewonnenen Gebiete halten und das Land vor Terrorangriffen mit Lenkwaffen immer besser schützen.

Die ungeheure Flächenausdehnung der RF täuscht darüber hinweg, dass das Land mit seinen 146 Millionen Einwohnern im heutigen Weltmaßstab eine mittlere Macht geworden ist. 2022 hatten Staat und Militär der Ukraine (38 Millionen Einwohner) mit einem Angriff gerechnet und die Gesellschaft hatte den politischen Willen ihre Unabhängigkeit zu verteidigen. Ihr Abwehrerfolg zeigte auch die Grenzen des strategischen Potentials der ehemaligen Supermacht. Allerdings macht das Scheitern der Sommeroffensive der Ukraine klar, dass angesichts des Machtgefälles die Ukraine zwar in der militärischen Verteidigung bestehen kann, eine große Offensive zur Rückgewinnung des ganzen Staatsgebietes aber außerhalb ihrer Möglichkeiten liegt.

Die RF hat in diesen Monaten die Wahl: Sie kann – auf welchen (Um)wegen und in Verbindung mit welchen Zumutungen ans Völkerrecht auch immer – einen Waffenstillstand anbieten. Zu befürchten ist aber, dass die Regierung Putin den strategischen Angriff in der Hoffnung auf einen politischen Zusammenbruch der Ukraine fortsetzen wird, solange das strategische Potential der Russischen Föderation das trägt.

Strategische Potentiale bestehen aus vielen Komponenten, von der Moral der Truppe bis zum Sprit für die Panzer und der Versorgungslage. Ein in den großen Kriegen des vergangenen Jahrhunderts wichtiger Punkt ist auch die Potentialveränderung, die sich aus aktiver internationaler Unterstützung ergibt. Die Ukraine hat aktive Unterstützer, die Hilfen verschiedener Art leisten und, was genauso wichtig ist, eine Perspektive von Zusammenarbeit und Entwicklung. Die Russische Föderation hat Geschäftspartner, die jetzt Rohstoffe billig einkaufen und Militärgüter teuer liefern.

Die strategischen Potentiale, die letztlich an der Kontaktlinie zwischen den Streitkräften und im Luftraum über der Ukraine zum Ausdruck kommen, stehen so, dass eine perfektionierte Verteidigung das Aggressionspotential der RF erschöpfen könnte.

Es gibt in der militärischen Diskussion Stimmen, die mit einem Durchbruch der RF und Vormarsch der Streitkräfte auf die Zentren rechnen. Dagegen sprechen nicht nur die schlechten Erfahrungen, die die Streitkräfte der RF 2022 machten, sondern auch technische Entwicklungen. So hat sich gezeigt, dass der Drohnenkrieg die Schwarzmeerflotte der RF hart getroffen hat, und Meldungen beider Seiten berichten, vom erfolgreichen Einsatz lenkbarer Kleindrohnen auf bewegliche Ziele, z.B. Panzer. Der Versuch einer großräumigen Operation könnte zu in einer dramatischen Niederlage angreifender Truppen führen.

Fazit: Die Ukraine kann der Aggression standhalten. Die Russische Föderation wird sich mit ihren begrenzten strategischen Möglichkeiten auseinandersetzen müssen. Diese reichen bei weitem und vielfach aus, um die Russische Föderation in ihren international anerkannten Grenzen gegen wen auch immer zu verteidigen. Eine imperiale Expansion und die Verwandlung von Nachbarländern in Einflusszonen geben die Ressourcen des Landes nicht her, es wird durch derartige solchen Bestrebungen lediglich zu einem gefährlichen Nachbarn, der sich Wege zur zivilen Zusammenarbeit verbaut und Rüstungsanstrengungen auslöst.

Abb: Karte. Bei der Annexion von Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson wurde eine Definition des Grenzverlaufs nicht vorgenommen, die Karte, nicht ganz aktuell, zeigt den Raum, der von der RF unter der Etikette „Verteidigung“ beansprucht werden könnte. – www.bpb.de/themen/europa/ukraine-analysen/nr-282/519763/karte-besetzte-gebiete/