Politische Berichte Nr.02/2024 (PDF)15
Aus Kommunen und Ländern

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Bundesprogramm Startchancen: Bildungsgerechtigkeit mit angezogener Handbremse

Von Sabine Boeddinghaus und Hanno Plass, Hamburg*

Der Jubel ist groß bei den Kultusministerien: Das Startchancen-Programm ist vereinbart! Es soll, so verkündete die Schulbehörde vor wenigen Tagen, mit 215 Millionen Euro benachteiligte Hamburger Kinder und Jugendliche fördern. Oder war es fordern? Bevor wir zu den inhaltlichen Punkten kommen, wollen wir eine Übersicht darüber geben, was das Startchancen-Programm, laut Kultusministerkonferenz (KMK) vom Herbst 2023, leisten sollte:

• Ab dem Schuljahr 2024/25 will der Bund für zehn Jahre jährlich eine Milliarde Euro zur Verfügung stellen.

• Die Länder bringen ihrerseits ebenfalls eine Milliarde Euro auf.

• Das Programm soll rund zehn Prozent aller Schüler*innen in Deutschland „erheblich“ unterstützen.

• Die Förderung „zielt auf eine bessere Ausstattung der Schulen, bedarfsgerechte Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung und eine Stärkung multiprofessioneller Teams“.

• Inhaltlich und pädagogisch fokussiert das Startchancen-Programm die „sinkenden schulischen Leistungen vieler Schülerinnen und Schüler“.1

• Es wurden im ganzen Bundesgebiet rund 4 000 Schulen identifiziert, die zusätzliche Ressourcen erhalten sollen.

Nun wurde weiterverhandelt und für Hamburg sollen jährlich 215 Millionen Euro aus Bundesmitteln herausspringen. Konkret sollen sozioökonomisch benachteiligte Schüler*innen „gezielt beim Erwerb von Basiskompetenzen in Deutsch und Mathematik und ihrer Persönlichkeitsentwicklung gefördert werden“. Erklärte Ziele sind eine Erhöhung der „Chancengerechtigkeit“ und die „Verringerung der sozialen Spaltung“. Es hebt auch auf Schulen mit Sozialindex 1 und 2 mit sozioökonomisch armer und sehr armer Schüler*innenschaft sowie auch Berufsschulen, besonders solche mit einem hohen Anteil von Schüler*innen in der Ausbildungsvorbereitung, ab.

Dazu wird das Startchancen-Programm in drei Säulen aufgeteilt:

1. ein Investitionsprogramm „für eine zeitgemäße und förderliche Lernumgebung“, das 40 Prozent der Mittel umfasst.

2. „Chancenbudgets für bedarfsgerechte Lösungen zur Schul- und Unterrichtsentwicklung“.

3. Mittel, um Personal zur Stärkung multiprofessioneller Teams zu finanzieren (je 30 Prozent der Mittel).

Konkret werden in Hamburg schon laufende Sondermaßnahmen genannt, die verstärkt und ausgebaut werden sollen wie Sprachförderung, Lernförderung (§45 HmbSG) und das Programm 23+ Starke Schulen, an dem mittlerweile über 30 Schulen teilnehmen).2 Schwerpunktmäßig sollen die Grundschulen 60%, die weiterführenden 40 % der begünstigten Schulen ausmachen.

Auch wenn es erfreulich ist, dass – endlich! – ein Bundesprogramm zur Verringerung der Bildungsungerechtigkeit vereinbart (aber noch nicht beschlossen) ist, bleibt viel Raum für Kritik und Fragen. Ein zentraler kritischer Aspekt ist Zeit. Seit der ersten PISA-Studie, die den „PISA-Schock“ auslöste, ist fast ein Vierteljahrhundert vergangen: Im Jahre 2000 wurde der Bundesrepublik drastisch vor Augen geführt, dass Herkunft und Bildung gekoppelt sind, dass vom sozioökonomischen Stand des Elternhauses der Schulabschluss maßgeblich abhängt. Ganz plastisch: Je mehr Einkommen die Familien zur Verfügung haben, desto höher der Bildungsabschluss der Kinder.

An dieser Faustregel hat sich nichts geändert. Denn der aktuelle Bildungsbericht Hamburgs 2023 stellt genau diesen Umstand fest: „Je höher die sozioökonomischen Belastungen der Schülerinnen und Schüler, desto geringer fällt ihr Kompetenzerwerb aus, und umgekehrt.“3

Das Schulsystem spielt über die Verengung der Zugänge und Qualifikationen für den Arbeitsmarkt eine wesentliche Rolle bei der Reproduktion der Klassengesellschaft, das ist ein unbestreitbarer Fakt.4 An diesem Prinzip hat keine Bundes- oder Landesregierung gerüttelt. Die vielen besonderen, zusätzlichen Maßnahmen und Programme haben zu keinem wesentlichen Wandel geführt. Es muss festgestellt werden, dass – in dieser kaum untersuchten und überprüften Art – eine Menge Geld verbrannt worden ist.

Zeit spielt auch deshalb eine Rolle, weil das Startchancen-Programm zwar zum nächsten Schuljahr kommen soll, doch schon im Haushalt der rot-grün-gelben Bundesregierung 2021 war das Programm eigentlich vereinbart worden. Es ist also in der jetzigen Legislatur zu spät, es ist aber auch besonders mit Blick auf den „PISA-Schock“ viel zu spät.

Weiterhin stellen sich Fragen zu den drei Säulen.

In der ersten Säule, Investitionen in Schulbau, ist eines der Ziele, barrierefrei zu bauen. Dies ist sowieso ein verpflichtendes Ziel und ein Mindeststandard, da die Bundesrepublik die UN-Behindertenrechtskonvention unterzeichnet hat. Kaum etwas Bewegendes. Und hinsichtlich des Schulgesetzes muss festgehalten werden, dass Hamburg prinzipiell daran gebunden ist, entsprechend der Schüler*innenzahl Schulen und Klassenräume zur Verfügung zu stellen. Benjamin Edelstein und Marcel Helbig stellen zudem und zurecht fest, dass angesichts des enormen Sanierungsstaus im Schulbau, die jetzigen Summen nur ein „Tropfen auf den heißen Stein“ bedeuten; außerdem sehen sie wenig Grund, davon auszugehen, dass Schulbaumaßnahmen einen „substanziellen Beitrag zum Abbau von Bildungsbarrieren leisten werden.“5

Die Schul- und Unterrichtsentwicklung, die zweite Säule, ist seit langem im Hintertreffen, weil die schon vorhandenen wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Erhöhung der Bildungsgerechtigkeit durch längeres gemeinsames Lernen im Ganztag seit Jahren bekannt sind, jedoch kaum systematisch und strukturell in den Schulen umgesetzt werden. Nach wie vor herrscht Segregation in zieldifferente und leistungshomogene Schulformen vor, teaching for the test und Wettlauf um Noten; die Lernfreude der Kinder und Jugendlichen spielt in keinem bildungspolitischen Programm eine Rolle. Pädagogische Kriterien fließen nicht verbindlich in das Startchancenprogramm ein – was wird also inhaltlich gemacht? In welche Richtung soll der Unterricht entwickelt werden? Wie sinnvoll werden die neuen Programme an die bestehenden Konzepte der einzelnen Schulen sinnvoll operativ eingebunden? Wie viel zusätzliche Personalressource wird für die Programmentwicklung eingeplant? Es besteht weiterhin die Gefahr, dass das Geld mit geringem Effekt verpufft.

Säule 3 soll multiprofessionelle Teams stärken und stellt besonders die Schulsozialarbeit heraus. Das ist nicht schlecht, aber auch hier ist unklar, wie sie als Teil der bestehenden Teams aufgenommen wird, wie die Ausbildung eigentlich ausschaut (in Hamburg wurde Schulsozialarbeit als Studien- und Ausbildungsfach abgeschafft). Und im Zentrum steht die Zeitfrage: Mehr Personal per se schafft die Zeitnot nicht ab, die bei den übervollen Bildungsplänen und den vielen zusätzlichen Aufgaben des pädagogischen Personals vorherrscht und an denen die überholte Arbeitszeitverordnung in Hamburg schuld ist. Außerdem werden ja schon jetzt Erzieher*innen an Schulen eingesetzt, um Stundenausfall zu kompensieren. In ihrem Kommentar halten Edelstein und Helbig fest: „Gerade bei der Schulsozialarbeit müsste daher das Startchancen-Programm zum Anlass genommen werden, den Wildwuchs aus Finanzierungsquellen, Trägerschaften und Verantwortlichkeiten grundlegend neu zu ordnen. Ohnedies wird es nur schwer gelingen, die für die Sozialarbeit vorgesehenen Mittel effizient und zielgerichtet einzusetzen. Voraussetzung dafür ist natürlich auch, dass es überhaupt genügend Sozialarbeiter:innen gibt.“6

Unklar ist uns derzeit auch, wie die angekündigte bedarfsgerechte Verteilung gehandhabt werden soll. An einer generellen Verteilung des Geldes nach dem Königssteiner Schlüssel wurde deutliche Kritik geübt, da diese bedarfsunabhängige Vergabe ungenau und ungerecht sei, an den Bedarfen vorbei.7 Die GEW im Bund beklagt, dass allein bei der Säule Schulbau nach Bedarfen verteilt werden würde, bei Säule 2 „Chancenbudget“ und Säule 3 „Multiprofessionelle Teams“ wieder eine globale Verteilung zum Tragen kommen würde. Marcel Helbigs Untersuchung legt nahe, dass bei einer Verteilung der Mittel nach dem Königssteiner Schlüssel in der Regel Schulen in Städten mehr profitieren würden als Schulen auf dem Land, die jedoch ebenso Mittel benötigen.8

Fraglich ist, wie viel mehr Eigenmittel der Senat in den Haushalt einbringen wird, um die Gegenleistung des Landes zum Bundesgeld zu erbringen. Oder werden bestehende Haushaltstitel umdeklariert und somit gar nicht mehr Landesmittel aufgebracht? Ist so etwas kein Etikettenschwindel? Die „TAZ“ erklärte es schon: „Durch den Kompromiss, eigene Ausgaben anrechnen zu können, wird deutlich weniger ‚frisches‘ Geld ins System gehen.“9

Was bei dem Startchancen-Programm überhaupt keine Rolle spielt, ist die Inklusion. Behinderte Schüler*innen wurden schlichtweg „vergessen“, Inklusion steht somit wieder mager und hager im Regen.

Um auf das vergangene Vierteljahrhundert zurückzuschauen: Die ganzen Sonderprogramme, die ins Leben gerufen wurden, sind ohne substantiellen Effekt geblieben. Das stellt auch Uli Vieluf im Interview fest.10 Die beiden Hilfsmittel zur Verringerung der Bildungsungerechtigkeit, Ganztag und Inklusion, waren beide als Sparprogramme angesetzt. Verbesserungen mussten gegen den Senat erkämpft werden, beide brauchten eine erfolgreiche Volksinitiative dazu.

Die wichtigen nächsten Schritte wären:

• ein transparentes finanzielles und pädagogisches Konzept für die Bundes- und Landesmittel aus dem Startchancen-Programm;

• die Ausweisung, wo schon eingeplante Haushaltsmittel des Landes für Startchancen eingesetzt werden, damit erkennbar wird, wo Geld fehlt;

• eine Bedarfserhebung und eine massive Erhöhung der Mittel, damit alle Schulen, die es benötigen, zusätzliche Mittel erhalten.

Die SPD-Vorsitzende Saskia Esken wiederholte wenige Tage vor der Verkündung des Startchancen-Programms ihre (und die Linke-) Forderung nach einem Sondervermögen für Bildung von zehn (wir: einhundert) Milliarden Euro.11

An der Konstruktion, dem Effekt und dem vom Umfang her größten Wurf von Bund und Ländern, etwas gegen die Bildungsungerechtigkeit zu tun, sind berechtigte Zweifel angebracht. Es steht zu befürchten, dass es wieder mal ein rhetorisch aufgebauschtes Schrittchen bleiben wird. Das ist schlecht für die Kinder und Jugendlichen in diesem Land, für die kommende Generation und es ist eine Benachteiligung derer, die sowieso schon unten stehen. Eigentlich ist das Startchancen-Programm im Kern ein Skandal: entgegen allen besseren Wissens gut gemeint und schlecht gemacht.

(1) KMK, 21.9.2023. (2) 23_starke_schulen_wer_nimmt_warum_und_wie_teil.pdf (buergerschaft-hh.de) (3) https://www.hamburg.de/contentblob/17434422/ec79ef50f8c64c14f53627583eba9824/data/pdf-hamburger-bildungsbericht-2023.pdf, S. 13. (4) Der schwere Weg zu einer Schule für alle. Warum sich keiner vom Gymnasium trennen will. In der Zeitschrift LuXemburg (zeitschrift-luxemburg.de) (5) Benjamin Edelstein/Marcel Helbig: Überfällig, aber nicht gut durchdacht – Ein Kommentar. Die Schule für alle, 2023/2. S. 17-20. (6) Edelstein, Helbig, Überfällig. (7) Marcel Helbig, Eine „faire“ Verteilung der Mittel aus dem Startchancenprogramm erfordert eine ungleiche Verteilung auf die Bundesländer. p23-001.pdf (wzb.eu); GEW: „Ja zum Startchancenprogramm – bei der Finanzierung nachbessern!“ (8) Edelstein/Helbig, Überfällig. (9) Ralf Pauli: Später Start für Startchancen-Programm. TAZ, 2.2.24, S. 6. (10) Kaija Kutter: „Keine Tabus bei der Schulstruktur“. Interview mit Uli Vieluf, TAZ, 14.2.2024, S. 28. (11) Startchancen-Programm: Milliardenprogramm soll Bildungschancen für sozial benachteiligte Kinder fördern (handelsblatt.com), Startchancen-Programm für Brennpunktschulen: Saskia Esken verlangt das Fünffache an Geld – DER SPIEGEL

* Aus dem Bürger*innenbrief Nr. 38 von Heike Sudmann und Sabine Boeddinghaus | Mitglieder der Hamburger Bürgerschaft in der LINKSFRAKTION, https://www.linksfraktion-hamburg.de/wp-content/uploads/2024/03/BB_Sudmann_Boeddinghaus_2024-02-web.pdf

Abb: Genau darum geht‘s! (Foto: Pressestelle Linksfraktion)

Abb: Bildungsprotest auf dem Gänsemarkt (Foto: S. Boeddinghaus)