Politische Berichte Nr.02/2024 (PDF)22
Kalenderblatt

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Kalenderblatt: 22. Januar 1924 Großbritannien

1924: Erste Labour-Regierung in Großbritannien

Von Ramsey MacDonald zu Keir Starmer?

01 Abb: Portrait. Ramsay MacDonald

Florian Weis, Berlin

Vermutlich im Oktober 2024, spätestens aber im Januar 2025 stehen Unterhauswahlen in Großbritannien und Nordirland an. Viel spricht dafür, dass nach dann über 14 Jahren Labour mit Keir Starmer an die Regierung zurückkehrt. Es wäre die erst siebte sozialdemokratische Regierung in der britischen Geschichte, nach 1924, 1929–1931 (jeweils mit Ramsay MacDonald als Premierminister), 1945–1951 (Clement Attlee), 1964–1970 (Harold Wilson), 1974–1979 (Harold Wilson und James Callaghan) und zuletzt 1997–2010 (Tony Blair und Gordon Brown).

Die erste Labour-Regierung unter Ramsay MacDonald (1866–1937), die vor 100 Jahren, am 22. Januar 1924, ins Amt kam, war eine Minderheitsregierung. Sie überstand kein volles Jahr im Amt und konnte wenige unmittelbare Erfolge verbuchen, leistete aber einen wichtigen Beitrag dafür, dass Labour dauerhaft zur zweiten politischen Kraft neben den Konservativen wurde.

Der Erste Weltkrieg und der Aufstieg der Labour Party

Die Labour Party entstand 1900 und 1906 als Wahlbündnis aus kleineren sozialistischen Gruppen und, entscheidender, vielen Gewerkschaften. Der Erste Weltkrieg verschob die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Erstens bewirkten der Druck der Suffragetten-Bewegung und die Folgen der industriellen Mobilisierung von Frauen für die Kriegswirtschaft, dass Frauen in zwei Schritten 1918 und 1928 das passive und aktive Wahlrecht erhielten. Zweitens hatte sich die Liberale Partei ab 1916 mehrfach gespalten. Drittens bestand nicht nur das Elend in den Slums des Londoner East Ends und anderer Städte fort, es zeichnete sich bald ab, dass die „goldenen Jahre“ des britischen Kapitalismus der Vergangenheit angehörten. Viertens wurde das Versprechen eines „country fit for heroes“ gebrochen: die materielle Anerkennung für die Opfer der Frontsoldaten und ihrer Angehörigen fand nie statt (fast eine Million Soldaten aus Großbritannien, Irland, den Dominions und dem Empire waren umgekommen, viele weitere schwer verwundet und traumatisiert). Eine Reihe von Liberalen wechselten nach dem Ersten Weltkrieg, oft von ihrer Ablehnung dieses Krieges getrieben, zur Labour Party. Dieses liberal-progressive Element verbreiterte die soziale und kulturelle Basis der Partei und beeinflusste auch inhaltliche Positionen, etwa zu Gunsten des Freihandels und gegen den Protektionismus.

Ein strategischer Schritt: Ramsay MacDonalds erste Labour-Regierung 1924

Ohne rechte Not hielt der konservative Premierminister Stanley Baldwin (1867–1947) im Dezember 1923 Neuwahlen ab, die zu nur geringen Verschiebungen in der Stimmenverteilung führten – minimalen Verlusten der Konservativen (rund 38% der Stimmen) standen geringe Zugewinne der Liberalen und der Labour Party (jeweils rund 30% der Stimmen) gegenüber. Das britische Mehrheitswahlrecht bewirkte aber den Verlust der parlamentarischen Mehrheit der Konservativen und Mandatsgewinne für sowohl Labour als auch die Liberalen. Die immer noch gespaltenen Liberalen räumten der Labour Party, die mehr Sitze (191 zu 158) gewonnen hatte, aber deutlich schwächer als die Konservativen (258 Sitze) war, die Möglichkeit einer Minderheitsregierung ein. Teile der rechten Presse und der Oberschichten reagierten geradezu hysterisch. Baldwin, ein ausgleichender und verantwortungsbewusster Konservativer, schloss sich der antisozialistischen Hysterie nicht an, auf seinen Rat hin letztlich auch nicht König Georg V., der MacDonald den Auftrag zur Regierungsbildung erteilte.

Labour konnte sich nunmehr als die Hauptalternative zu den Konservativen profilieren und die Liberalen in dieser Funktion ablösen. Genau dies hatte MacDonald im Sinn, als er die Chance zur Regierungsbildung ergriff. Ihm ging es darum, Labour als eine verantwortungsbewusste, konstruktive und kompetente Kraft zu präsentieren, eine Partei, vor der moderate bürgerliche Kreise und die etablierten Kräfte an der Spitze der Verwaltung (civil service) keine Angst haben mussten. Vielen Linken war dies, verständlicherweise, viel zu vorsichtig und halbherzig. Elektoral aber sprach einiges für den Kurs von MacDonald. Zudem zeigt der internationale Vergleich in der Zwischenkriegszeit mit Blick auf den Faschismus an der Macht in Italien und die Bekämpfung der Weimarer Republik durch Teile von Adel, Bürgertum und Staatsapparate – erinnert sei später auch an Chile 1973, an rechte putschistische Tendenzen in Italien während der 1970er Jahre und an aktuelle Gefahren in den USA bei einer möglichen Rückkehr von Donald Trump –, dass selbst moderate sozialdemokratisch-gewerkschaftliche Reformen eine Absicherung durch eine zumindest passive Akzeptanz der bürgerlichen Kräfte benötigten. Zudem wollte Labour praktische Erfahrungen als Regierungskraft sammeln. Die große Reformregierung 1945 profitierte sowohl von den Erfahrungen in den Minderheitsregierungen 1924 und 1929–1931 als auch von denen der Kriegskoalition 1940–1945. Nicht zuletzt verschaffte die erste Regierung der „Arbeitspartei“ erstmals jenem Teil der Arbeiter:innenklasse, der sich als eigenständige Gruppe („them and us“) mit einem Anspruch auf Teilhabe und Veränderung verstand, eine Stimme in der Exekutive und damit eine gewisse Anerkennung. So begrenzt die Ambitionen der Regierung MacDonald auch waren, so darf dieser Aspekt auch nicht geringgeschätzt werden.

Die absehbar kurzlebige Labour-Regierung, in der MacDonald gleichzeitig auch Außenminister war, hatte einige Akzente setzen können. So nahm sie diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf und verhandelte auch über verschiedene wirtschaftliche Abkommen. Darüber hinaus brachte sich Großbritannien vermittelnd in die Reparationsverhandlungen mit Deutschland ein, unterstützte den Völkerbund und trug zur Entspannung zwischen Deutschland und Frankreich bei. Innenpolitisch wurde ein Gesetz zur Förderung des sozialen Wohnungsbaus und kleine Verbesserungen der Leistungen für Arbeitslose beschlossen. Angesichts der fragilen parlamentarischen Lage, fehlender Regierungserfahrungen und der aggressiven Gegnerschaft von Teilen der Presse und der Oberschichten waren dies keine unbedeutenden Leistungen.

Vor allem aber war MacDonalds Kalkül aufgegangen, Labour als die alternative Regierungskraft zu den Konservativen ins Bewusstsein zu heben. Zwar verlor die Labour Party bei den Neuwahlen Ende 1924 ein gutes Fünftel ihrer Mandate, ihr Stimmenanteil stieg aber auf nunmehr 33% an, während die Liberalen massiv verloren. Die Konservativen unter Baldwin kehrten an die Regierung zurück. 1929 sollte Labour seinen Stimmenanteil nochmals auf über 37% steigern und mehr Unterhaussitze als die Konservativen gewinnen können. In der Folge kam die zweite Labour-Minderheitsregierung ins Amt. 1945 schließlich gewann Labour mit 48% der Stimmen erstmals eine absolute Mehrheit im Unterhaus und setzte bis 1951 weitreichende Sozialreformen durch.

Abb: Titelseite Daily Herald. Siehe auch: https://www.rosalux.de/news/id/51533/von-ramsey-macdonald-zu-keir-starmer

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Abb: Portrait. Ramsay MacDonald hatte 1914 mit seiner Ablehnung der britischen Kriegsbeteiligung, wie immer diese vor dem Hintergrund der deutschen Expansionspolitik auch zu bewerten sein mag, großen Mut angesichts einer vielfach nationalistisch aufgeheizten Stimmung bewiesen. Dies verlieh ihm in den 1920er Jahren ein erhebliches moralisches Gewicht, obgleich er von Teilen der Partei wegen seiner kompromissbereiten Politik und seiner Neigung, sich gerne in Zirkeln der Aristokratie zu bewegen, kritisch beäugt wurde. Der Schotte MacDonald, uneheliches Kind einer Hausangestellten und eines Landarbeiters, was damals als Makel angesehen und zeitweilig auch politisch gegen ihn verwendet wurde, gehörte zu den prägenden Labour-Politikern der Gründungszeit. Er stand für einen evolutionären Weg der Sozialreformen innerhalb des britischen Parlamentarismus. 1929 wurde MacDonald erneut Premierminister einer Labour-Regierung, die während der Weltwirtschaftskrise im Sommer 1931 zerbrach. MacDonald führte fortan eine „nationale“ Regierung, in der aber die Konservativen dominierten. Die Mehrheit der Labour Party ging in die Opposition und betrachtete MacDonald fortan als Verräter.

Abb.: https://www.britannica.com/biography/Ramsay-MacDonald#/media/1/354108/12751