Politische Berichte Nr.1/2023 (PDF)29
Globale Debatten - UN Initiativen

* 27-globale-debatten-gegen-nukleare-waffen-jaeckel-3.html * 29-rez-rudolf-nukleare-abschreckung-jaeckel-3.html * 32a-nuklear-archive-frankreich-geoeffnet-lechner-e-3.html

Rezension: Peter Rudolf, Welt im Alarmzustand – Die Wiederkehr nuklearer Abschreckung

Ulli Jäckel, Hamburg

Zunächst richtet er seinen Blick auf die zentralen geopolitischen Konfliktkonstellationen: Das System der Abschreckung zwischen USA und Russland sowie zwischen USA und China. Nach der Aufkündigung des ABM-Vertrages zur Begrenzung von Raketenabwehrsystemen durch Präsident Bush 2002 und der Aussetzung des INF-Vertrages (Vertrag zwischen USA und Russland über die Beseitigung nuklearer Mittelstreckenraketen) 2019 ist „die vertragliche Rüstungskontrolle weitgehend zusammengebrochen“. Dass die fünf Atommächte USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien im Januar gemeinsam erklärt haben, ein Nuklearkrieg könne nicht gewonnen und solle niemals geführt werden, erscheint im Angesicht der weiteren Modernisierung der nuklearen Arsenale und der russischen Drohungen im Zuge des Krieges gegen die Ukraine wenig beruhigend.

Seit dem strategischen Konzept von 2010 definiert sich die Nato ausdrücklich als „nukleares Bündnis“, in dem auch die Mitgliedsstaaten ohne Atomwaffen die Politik nuklearer Abschreckung legitimieren. Dabei hat die Nato selbst keine öffentlich zu erkennende Nuklearstrategie. Formulierte Doktrinen haben die USA, Großbritannien und Frankreich, die Rudolf darstellt. Auf deren strategische Nuklearstreitkräfte haben die übrigen Nato-Staaten keinen Einfluss.

Auch die „nukleare Teilhabe“ Deutschlands beurteilt der Autor skeptisch: Was die nuklear-strategischen Entscheidungen der USA betrifft, hätten Deutschland und die europäischen Staaten allenfalls eine reaktive Rolle. „Man kann die Nukleare Planungsgruppe als Camouflage der nuklearen Statusunterschiede innerhalb des Bündnisses bezeichnen“. Zudem ließen sich operative Gründe für die Stationierung von amerikanischen Schwerkraftbomben in Europa schwerlich finden. In den amerikanischen Szenarien für Europa spielen die atomwaffenfähigen Flugzeuge der Nato-Partner keine nennenswerte Rolle. Das politische Bekenntnis der Bundesregierung zur „nuklearen Teilhabe“ nützt jetzt vor allem den amerikanischen Produzenten der F-35 Bomber, die die europäischen Staaten derzeit anschaffen.

Allen Szenarien von „begrenztem Nuklearkrieg“ mit „Eskalationskontrolle“ durch kleinere Atomwaffen zum Trotz kommt Rudolf zu dem Schluss, dass das Problem der Kontrolle einer einmal begonnenen atomaren Eskalation in diesem Denken nicht gelöst werden könne.

Bei der Diskussion der rechtlichen, ethischen und politischen Legitimität der nuklearen Abschreckung stellt der Autor fest: Obwohl der Internationale Gerichtshof in seinem Gutachten von 1996 zu keiner Entscheidung darüber kam, ob der Einsatz von Atomwaffen geringer Sprengkraft und in extremen Selbstverteidigungsfällen rechtskonform seien könnten, ist es fraglich, ob ein solcher Einsatz mit dem humanitären Völkerrecht vereinbar sein kann, da radioaktiver Fallout und Strahlung in ihren Folgen nicht kontrollierbar sind.

In ethischer Hinsicht stehen „die Versuche, nukleare Abschreckung als Mittel der Kriegsverhinderung (…) zu rekonstruieren, (…) im Widerspruch zur realen Entwicklung nuklearer Abschreckungspolitik.“

Politisch sei nukleare Abschreckung „ein Konstrukt, in welchem Annahmen, denen es an einer empirischen Grundlage fehlt, eine wichtige Rolle spielen.“ Das Vertrauen in die Stabilität des Abschreckungssystems beruhe auf geradezu dogmatischen Annahmen. „Nukleare Abschreckungspolitik muss mit ihrem Versagen rechnen.“

Angesichts des Festhaltens der Atomwaffenstaaten und in ihrem Gefolge z.B. der Nato-Mitglieder an der völkerrechtlichen Rechtfertigung des Atomwaffeneinsatzes unter bestimmten Bedingungen sieht Rudolf in dem Atomwaffen-Verbotsvertrag vor allem ein „Instrument einer Strategie des normativen Wandels“, der noch nicht als Grundlage eines institutionalisierten „nicht-nuklearen Friedens“ ausreicht. Da die Annahme rational handelnder Akteure problematisch sei, bleibe ein Nuklearkrieg ein globales katastrophales Risiko, dessen Konsequenzen das nukleare Abschreckungsdenken tendenziell ausblende. Er plädiert für den Verzicht auf einen Ersteinsatz von Nuklearwaffen seitens der USA und der Nato. Außerdem solle im Kriegsfalle auf einen gegnerischen Ersteinsatz nicht mit einer nuklearen Gegenreaktion geantwortet werden. „Die Bewahrung und Festigung der Norm gegen den Einsatz von Kernwaffen würde eine andere Reaktion erfordern: nämlich den Staat, der solche Waffen als erster einsetzt, zu ächten – und die Eskalationskette zu unterbrechen, deren Ende man sich nicht ausmalen mag.“

Abb.(PDF): (Cover) Peter Rudolf: Welt im Alarmzustand – Die Wiederkehr nuklearer Abschreckung, Bonn (J.H.W.Dietz Nachf.) 2022, auch als Sonderausgabe (Bd. 10927) bei der Bundeszentrale für politische Bildung. – Rudolf, Senior Fellow der Berliner Stiftung für Wissenschaft und Politik, analysiert in seinem Buch die Rolle nuklearer Abschreckung in einer Ära neuer Großmacht-Rivalitäten.