Politische Berichte Nr.2/2023 (PDF)24b
Ankündigungen, Diskussion, Dokumentation

* 08-pb02-2023-eu-und-ukraine-cornides-1.html * 24b-pb02-2023-ukraine-gefechtslage-verhandlungslage-fochler-1.html * 26-pb02-2023-un-generalversammlung-doku-bericht-jaeckel-1.html * 27-pb02-2023-abruestung-abkommen-jaeckel-1.html

Ukraine: Erstarrung der Fronten, aber kein Stillstand der militärischen Handlungen

01 dok FRIEDEN SCHAFFEN! – Waffenstillstand und Gemeinsame Sicherheit jetzt!
02 Abb. (PDF): Faksimile der Entgegnung des Botschafters der Ukraine in der ARD

Martin Fochler, München

Wie schon Anfang des Jahres denkbar, ist es der ukrainischen Armee tatsächlich gelungen, ein strategisches Vorrücken der Okkupationstruppen der RF bis jetzt zu verhindern. Der Kriegsplan der RF, Staat, Gesellschaft und Militär der freien Ukraine durch Raketenangriffe auf technische und zivile Einrichtungen in ihrem gesamten Gebiet strategisch zu schwächen, ist nicht nur an der Luftabwehr gescheitert, sondern auch an den Fähigkeiten der öffentlichen Dienste, die eingetretenen Schäden auszubessern.

An der Front stützt sich die ukrainische Verteidigung auf eine Kette von Siedlungen. Der Kriegsplan der RF sah erkennbar vor, diese Knotenpunkte Schritt für Schritt auszuradieren und über die Ruinen weiter vorzurücken. Die Staats- und Militärführung entschied, die in Trümmern liegende Stadt Bachmut nicht zu räumen, sondern unter großen Opfern militärisch zu halten, da sonst bloß der nächste Ort dran wäre.

Im Ergebnis hat die Verteidigung der freien Ukraine bis jetzt eine Verschiebung der Front nach Westen verhindern können, militärisch ist ein labiles Gleichgewicht entstanden, labil, weil es nicht von einem Stillstand der Kampfhandlungen selbst begleitet ist. Jeden Tag kann es an der einen oder anderen Stelle der über tausend Kilometer langen Front zu einem Durchbruch der einen oder anderen Seite kommen. Gerade jetzt gehen wieder Meldungen über den Ticker, dass die Wagner-Truppe Bachmut „eingenommen“ hätte. Wird die RF dann die nächste Siedlung in Schutt und Asche legen? – Die „Schlammzeit“, wie das Ende des Winters in dieser Weltgegend genannt wird, geht zu Ende. Großräumige Truppenbewegungen werden technisch möglich.

Wieso konnte die freie Ukraine dem Angriff einer strategisch so stark überlegenen Großmacht standhalten? Ein Grund ist, dass die ukrainische Gesellschaft von der Bindung an das politisch-wirtschaftliche System der RF keine Entwicklungsmöglichkeiten erhofft. Das legitimiert den militärischen Widerstand.

Auf der Seite der Russischen Föderation bestehen dagegen enorme Schwierigkeiten, die zweifelsfrei erdrückend überlegenen Ressourcen zu mobilisieren. Ein sicheres Zeichen für den Legitimitätsverlust der Führung ist die große Zahl der Militärdienstpflichtigen, die sich der Einberufung durch Ausreise entziehen. Solche für das Leben der Einzelnen äußerst folgenreiche Entscheidungen dürfen als Index für sehr viel größere Bereiche erfassendes Unbehagen und mangelhaftes Engagement bei Mobilisierungsanstrengungen gewertet werden. So ist fraglich, ob die Russische Föderation die Kräfte mobilisieren kann, die sie benötigen würde, um die Ukraine militärisch niederzuwerfen und besetzt zu halten.

Sicher ist auch, dass die freie Ukraine ihre Grenzen ohne wirtschaftliche und militärische Hilfslieferungen aus dem Ausland nicht sichern kann. Diese Hilfen sind durch Beschlussfassung der UNO-Vollversammlung legitimiert (siehe Seite 26). Der Umfang dieser Lieferungen gibt der Ukraine aber nicht die Mittel zu einem groß angelegten Gegenangriff in die Hand. Die immer wieder diskutierten militärischen und politischen Pläne – Vorstoß bis nach Mariupol, Befreiung der besetzten Gebiete einschließlich der Krim usw. setzen auf völlige Demoralisierung der Truppen der Russischen Föderation. Wahrscheinlich ist aber, dass die strategische Kraft der RF ausreicht, einen erheblichen Teil der jetzt okkupierten Gebiete besetzt zu halten. Die ukrainische Verteidigung hat viel erreicht, wenn sie wenigstens eine Westausdehnung der Okkupation verhindern kann.

Neueste Meldungen belegen, dass die Unterstützer der Ukraine ihre Leistungen begrenzen. Die „Welt am Sonntag“ vom 2. April zitiert den Bundesverteidigungsminister Pistorius:

„Es fehle an Geld und Produktionskapazitäten der Industrie. Weitere Abgaben aus den Beständen der Bundeswehr über die bisherigen Zusagen hinaus lehnt Pistorius derzeit ab. Wie die anderen Nationen habe auch Deutschland nur einen begrenzten Bestand. Der Verteidigungsminister betonte, eine ‚gewisse Sollgrenze‘ sollte nicht unterschritten werden. Die Produktionsprozesse könnten nicht beschleunigt werden. Das gelte auch für Munition.“

Rückhalt für einen groß angelegten Gegenangriff lässt sich aus derartigen Andeutungen nicht herauslesen. Auf die Fakten reduziert, sind sie ein Signal an die Regierung Putin, das Angebot eines Deals, der darauf hinausliefe, dass sich die RF mit dem Recht der Ukraine abfinden solle, ihre Außenbeziehungen und Bündnisse unabhängig zu bestimmen, während die Ukraine den militärischen Kampf um die Befreiung der zur Zeit besetzten Gebieten aufzugeben hätte. Auf Stimmen aus der Ukraine können sich solche Vorstellungen nicht berufen.

Die öffentliche Meinung der BRD würde einen derartigen Deal überwiegend begrüßen, auch wenn er über völkerrechtlich solide Ansprüche hinweg der Ukraine mehr oder weniger aufgenötigt würde. Tatsächlich wäre damit aber nicht Frieden, sondern nur ein permanenter Grenzkrieg im östlichen Europa und bis hinein nach Asien institutionalisiert.

Man beachte, dass Pistorius gleichzeitig von den Grenzen der Ukraine-Unterstützung und mehr Mitteln für den strategischen Ausbau der Bundeswehr spricht. Die Regierung Putin kann solche Ankündigungen als verlockendes Angebot auffassen, die Beute zu sichern. Möglich ist aber auch, dass sie keinen Sinn darin sieht, dem westlichen Nachbarn eine lange Zeit zur Auf- und Hochrüstung zu lassen, sondern in der jetzigen Situation ein Zeitfenster sieht, in dem es möglich ist, den militärischen Widerstand der freien Ukraine zu brechen.

In der BRD werden die Wortmeldungen in Richtung Waffenstillstand jetzt / Verhandlungen sofort stärker. Der jüngste Aufruf, siehe Kasten, hat nach der Liste der Unterzeichnenden vor allem in Gewerkschaften, Kirchen und Kommunalpolitik Unterstützung gefunden; er ist trügerisch. In dem Satz „Waffenstillstand und Gemeinsame Sicherheit jetzt!“ ist das „Jetzt“ für den Waffenstillstand real, und das bedeutet: Wer hat, der hat. Die ebenfalls adressierte „gemeinsame Sicherheit“ ist nicht mehr als eine Hoffnung auf eine ferne Zukunft. – Man kann diesen Text aber konstruktiv lesen, als Aufforderung an die Öffentlichkeit, sich mit den Trümmern zu befassen, die der Angriffskrieg auf dem Feld europaweiter Verträge und Vereinbarungen hinterlassen hat. (Siehe auch Seite 8)

Dem Umstand, dass die RF nicht verhandeln wird, wenn sich die freie Ukraine nicht militärisch wirksam verteidigen kann, trägt der Appell übrigens verschämt Rechnung. Ein Ende der Waffenlieferungen an die Ukraine wird nicht gefordert und eine Rüstungsbegrenzung der BRD auch nicht.

01

dok FRIEDEN SCHAFFEN! – Waffenstillstand und Gemeinsame Sicherheit jetzt!

Mehr als ein Jahr dauert bereits der russische Angriffskrieg auf die Ukraine. Jeder weitere Tag Krieg bedeutet für die betroffenen Menschen mehr Leid und Zerstörung, mehr Verwundete und Tote. Mit jedem Tag wächst die Gefahr der Ausweitung der frontKampfhandlungen. Der Schatten eines Atomkrieges liegt über Europa. Aber die Welt darf nicht in einen neuen großen Krieg hineinschlittern. Die Welt braucht Frieden. Das Wichtigste ist, alles für einen schnellen Waffenstillstand zu tun, den russischen Angriffskrieg zu stoppen und den Weg zu Verhandlungen zu finden.

Aus dem Krieg ist ein blutiger Stellungskrieg geworden, bei dem es nur Verlierer gibt. Ein großer Teil unserer Bürger und Bürgerinnen will nicht, dass es zu einer Gewaltspirale ohne Ende kommt. Statt der Dominanz des Militärs brauchen wir die Sprache der Diplomatie und des Friedens.

Die Friedens- und Entspannungspolitik, der wir die deutsche Einheit und die Überwindung der europäischen Spaltung verdanken, ist nicht überholt. Wir haben uns in der Vergangenheit für ihre Ziele eingesetzt und tun das auch heute. Um es mit Willy Brandt zu sagen: „Es gilt sich gegen den Strom zu stellen, wenn dieser wieder einmal ein falsches Bett zu graben versucht.“ Die Vereinten Nationen haben mit dem Konzept der gemeinsamen Sicherheit den Weg in eine friedliche Welt aufgezeigt. Es hat seine Wurzeln in der deutschen Friedens- und Entspannungspolitik. In diesem Geist kam es zur Schlussakte von Helsinki und zur Charta von Paris für ein neues Europa. Daran knüpfen wir an. Frieden kann nur auf der Grundlage des Völkerrechts und auch nur mit Russland geschaffen werden.

Unsere Welt ist auf Gegenseitigkeit angewiesen, nur so sind die großen Herausforderungen unserer Zeit zu bewältigen. Entscheidend ist es, die Eskalation des Krieges zu stoppen. Wir ermutigen den Bundeskanzler, zusammen mit Frankreich insbesondere Brasilien, China, Indien und Indonesien für eine Vermittlung zu gewinnen, um schnell einen Waffenstillstand zu erreichen. Das wäre ein notwendiger Schritt, um das Töten zu beenden und Friedensmöglichkeiten auszuloten. Nur dann kann der Weg zu einer gemeinsamen Sicherheitsordnung in Europa geebnet werden.

Initiatoren und Verantwortliche: Prof. Dr. Peter Brandt, Historiker; Reiner Braun, Internationales Friedensbüro; Reiner Hoffmann, ehem. DGB-Vorsitzender; Michael Müller, Bundesvorsitzender der Naturfreunde, Parlament. Staatssekretär a. D. https://frieden-und-zukunft.de/2023-04-01_aufruf-frieden-schaffen/

02

Abb. (PDF): Faksimile der Entgegnung des Botschafters der Ukraine in der ARD