Politische Berichte Nr.3/2023 (PDF)03
Aktuell aus Politik und Wirtschaft

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Erdoğan gewinnt Präsidentenwahl – Demokratie und Frieden bleiben auf der Strecke

01 Dok: HDP: „Der Kampf geht weiter“

Rudolf Bürgel, Karlsruhe

Das Ergebnis der Wahlen in der Türkei ist ernüchternd: Erdogan ist für weitere fünf Jahre gewählt und die AKP-MHP-Regierung hat erneut die Mehrheit im Parlament erhalten.

Bei der Präsidentenwahl fand zwischen Erdoğan (AKP) und Kılıçdaroğlu (CHP) eine Stichwahl statt. Erdoğan erhielt 51,91 % und Kılıçdaroğlu 48,09 %.

Parlamentswahl:

AKP 35,61 % (-6,95) = 268 Abgeordnete

CHP 25,33 % (+2,68) = 169 Abgeordnete

MHP 10,07 % (-1,03) = 50 Abgeordnete

IYI 9,69 % (-0,27) = 43 Abgeordnete

YSP* 8,82 % = 61 Abgeordnete

YRP 2,81 % = 5 Abgeordnete

TIP 1,73 % = 4 Abgeordnete

* (HDP 2018: 11,7 %)

Das Bündnis für Arbeit und Frieden, dem neben der YSP und der TIP als stärkste Partei die HDP angehört, stellt 66 Abgeordnete. Die HDP hatte im letzten Parlament 56 Sitze.

Die prozentualen Verluste der Grünen Linkspartei YSP gegenüber dem Wahlergebnis der HDP 2018 kommen allesamt aus dem Westen der Türkei. Die kurdischen Wähler:innen haben, wie die Karten dokumentieren, trotz großer Repression und dokumentierter Wahlfälschungen wieder gegen Erdoğan und AKP/MHP gestimmt. In den Provinzen Dersim, Sirnak, Hakkari und Diyarbakir stimmten weit über 70 Prozent für die YSP und bei der Präsidentenwahl für Kılıçdaroğlu. Istanbul entsendet die YSP 11 Abgeordnete.

Direkt vor der Stichwahl versuchte Kılıçdaroğlu Stimmen vom nationalistischen und rechten Block zu fischen. Die rechtsnationalistische Zafer Partisi rief zu seiner Wahl auf, nachdem Kılıçdaroğlu vom Rechtsextremisten Özdağ unterstützt wurde. In einem gemeinsamen Protokoll einigte man sich unter anderem auf die Rücksendung „aller Flüchtlinge und Illegalen“ innerhalb eines Jahres, eine „entschiedene Bekämpfung von Terrororganisationen“ und die Fortsetzung des staatlichen Treuhandregimes in Kommunen, in denen gewählte Bürgermeisterinnen und Bürgermeister unter „Terror“-Vorwürfen des Amtes enthoben wurden. Dabei geht es hauptsächlich um Rathäuser in kurdischen Städten, die nach den letzten beiden Kommunalwahlen in der Türkei unter Zwangsverwaltung gestellt worden waren. Bei einem Treffen zwischen Kılıçdaroğlu und der HDP-Spitze hatte der CHP-Vorsitzende noch die Abschaffung der Zwangsverwaltung zugesichert. Das sorgte dann für Verstimmung und Irritationen und wird eher Stimmen gekostet haben.

Kılıçdaroğlu hatte vor der Wahl die Abschaffung des von Erdoğan eingeführten autoritären Präsidialsystems versprochen und Hoffnungen für einen Weg zurück zur Demokratie geweckt. Das Präsidialsystem bedeutet, dass die Regierung aus dem Staatspräsidenten und den Ministern besteht. Das Amt des Ministerpräsidenten ist entfallen. Die Exekutivbefugnisse wurden gebündelt und allein dem Staatspräsidenten zugeordnet. 2017 stimmten dieser Verfassungsänderung 51,4 % der Wähler:innen zu. Seitdem regiert Erdoğan als Alleinherrscher per Dekret. Das Parlament spielt nur noch eine untergeordnete Rolle, hat bei den meisten vom Präsidenten erlassenen Gesetzen nur ein Mitspracherecht.

Die erneute Wahl Erdoğans ist für die Opposition ein schwerer Rückschlag. Die Unterstützung Kılıçdaroğlus durch die YSP machte erst einen möglichen Weg für eine Rückkehr zur Demokratie und für eine Beendigung andauernden Verfolgung der Opposition frei. Wie fragil diese Verständigung war, zeigt die Verständigung Kılıçdaroğlus mit den Rechtsextremen. Noch in der Nacht nach dem ersten Wahltermin haben faschistische Mobs und staatlich gelenkter Terror in den kurdischen Hochburgen zugeschlagen. In Cizre und Yükeskova – in beiden Städten liegen die Wahlergebnisse bei 90 Prozent für die YSP – beschoss die Polizei mehrere Tage die Wohnviertel mit Tränengas, zerstörte Fenster und Türen an Wohnungen bekannter Aktivisten, verhaftete viele und folterte stundenlang. Über die Provinz Sirnak wurde Ausnahmezustand verhängt, ohne Passierschein kann kein Mensch einen Ort verlassen oder besuchen. Faschistische Lynchmobs durchzogen viele kurdische Orte und griffen Politiker:innen und Aktivisten an. Nach der gewonnen Stichwahl drohte Erdoğan in seiner Siegesrede die LGBTIQ-Vereine „zu zerquetschen“ und kündigte an, den ehemaligen HDP-Vorsitzenden Selahattin Dermitas nie mehr aus dem Gefängnis zu entlassen, was seine Anhänger:innen mit johlenden Rufen nach der Todesstrafe unterstützten.

Das Wahlergebnis bedeutet auch, dass es in der Türkei weiterhin eine erhebliche Zustimmung für Erdoğans Politik der islamistischen Ausrichtung einer starken Türkei im Mittleren Osten und für eine panosmanische Ausdehnung gibt. Auf eine Opposition und Entwicklung, die auf Gleichberechtigung, Frieden und sozialen Ausgleich setzt, kommen weitere schwierige Kämpfe und Jahre zu.

Abb. (PDF): (Karten) Links: Ergebnisse der Parlamentswahl nach Provinzen. Schwarz: Mehrheit für die CHP, dunkelgrau: Mehrheit für die YSP, hellgrau: Mehrheit für die AKP. Rechts: Ergebnisse für die Präsidentenwahl, erster Wahlgang, nach Provinzen. Dunkel: Mehrheit für Kılıçdaroğlu (CHP), hell: Mehrheit für Erdoğan (AKP). Hasan Kara – Eigenes Werk, CC BY-SA 4.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=130607956

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Dok: HDP: „Der Kampf geht weiter“

In der HDP-Zentrale in Ankara hat eine Versammlung zur Auswertung der Wahlergebnisse stattgefunden. An der Sitzung nahmen die Ko-Vorsitzenden und Ko-Sprecher:innen der Demokratischen Partei der Völker (HDP), der Grünen Linkspartei (YSP), der Partei der Demokratischen Regionen (DBP), des Demokratischen Gesellschaftskongresses (KCD) und des Demokratischen Kongresses der Völker (HDK) teil. Im Anschluss an die Beratung wurde eine gemeinsame Stellungnahme zu den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen vom 14. Mai und der Stichwahl vom 28. Mai sowie zum weiteren Vorgehen der beteiligten Parteien und zivilgesellschaftlichen Organisationen abgegeben.

1. Richtige, effektive und ergebnisorientierte Genossenschaftlichkeit – Wir erlebten und erleben gemeinsam eine zähe und harte Zeit des Kampfes gegen den Zersetzungsplan gegen die kurdische politische Bewegung. Die deutlichste Antwort auf die fortgesetzte Putschpolitik gegen das Freiheitsstreben des kurdischen Volkes wurde in Kurdistan mit den Wahlen vom 14. Mai und 28. Mai gegeben. Wir verneigen uns mit Respekt vor dem epischen Widerstand des kurdischen Volkes, das angesichts seiner Statuslosigkeit und der Verleugnungs- und Vernichtungspolitik des Regimes auf einer Haltung der Freiheit beharrt. Wir wiederholen unser Versprechen, dass wir dieser entschlossenen Haltung in der kommenden Zeit eine richtige, effektive und ergebnisorientierte Genossenschaftlichkeit zur Seite stellen werden.

2. Ausbau des gesellschaftlichen Kampfes – Ebenso begrüßen wir die Haltung der Völker der Türkei gegenüber der faschistischen Macht, die sich aller Arten von Komplott, Täuschung, Lügen und Desinformation bedient und alle Mittel des Staates einsetzt. Die Tatsache, dass jeder zweite Mensch in der Gesellschaft mit dem Palastregime nicht einverstanden ist, ist für uns ein Grund, den demokratisch-revolutionären gesellschaftlichen Kampf in der kommenden Zeit zu verstärken.

3. Hinter dem angestrebten Wahlergebnis zurückgeblieben – und akzeptieren diese Situation. Wir richten jedoch noch einmal das Wort an diejenigen, die meinen, dass der Kampf des kurdischen Volkes für Freiheit und der Kampf der Völker der Türkei für Demokratie die entscheidende Rolle durch die Wahlurnenmathematik geschwächt hat: Wir haben immer politisch existiert und waren immer die Hoffnung der Unterdrückten. In der neuen Periode des Kampfes werden wir organisatorisch, politisch und gesellschaftlich weiterhin eine bestimmende Rolle spielen. (…) Hartnäckig und beharrlich werden wir unsere Rolle im Kampf für Demokratie weiter ausbauen und Wegbereiter für einen noch stärkeren Aufbruch in die Freiheit sein.

4. Versprechen an alle Weggefährt:innen – Den großen Werten unseres Kampfes für Demokratie und Freiheit, unseren Freund:innen und Genoss:innen, die in den Kerkern, im Exil, auf jedem Gebiet und in jeder Etappe des Kampfes teilgenommen, einen Tribut geleistet und Einsatz gezeigt haben, versprechen wir erneut den Sieg.

5. Keine Demoralisierung zulassen – Wir werden die aktuelle Lage in den kommenden Tagen gründlich auswerten, ohne demoralisiert oder frustriert zu sein. Niemand sollte daran zweifeln, dass wir die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen und unseren Kampf gegen dieses arbeits-, friedens-, demokratie-, freiheits-, natur-, jugend- und frauenfeindliche Regime weiterführen werden, ohne einen Schritt zurückzutreten. ANF, 30.5.2023