Politische Berichte Nr.6/2022 (PDF)07a
EU-Politik

* 04a-rf-verliert-ansehen-und-einfluss-cornides-01.html * 04b-rf-kriegsziel-unterwerfung-fochler-01.html * 07a-eu-stellt-sich-herausforderungen-schuettpelz-01.html

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die zwischen der EU und der Ukraine bestehenden institutionellen Beziehungen nicht juristisch außer Kraft gesetzt, aber doch in vielen Belangen ad hoc und weitreichend modifiziert und durch umfangreiche Maßnahmen ergänzt, die gewissermaßen im Eilverfahren umgesetzt werden. Das Parlament verzichtet auf längere Konsultationsverfahren, es verzichtet auch auf den Jahresbericht zur Umsetzung des Assoziierungsabkommens durch die Ukraine. Hinzu kommt, dass selbst im Friedensfall das Assoziierungsabkommen weiter gelten wird, Programme, Verhandlungen und Rechtsgrundlagen aber auf die Erfordernisse eines Beitrittsprozesses zugeschnitten werden müssten. Hierzu haben wir einen Diskussionsbeitrag aus der Parteifamilie der Linken im Europaparlametn erhalten. (rog)

Die Europäische Union stellt sich geopolitischen Herausforderungen

Karin Schüttpelz, Brüssel *

Kein Thema ist 2022 in der Gesellschaft so leidenschaftlich diskutiert worden, wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine. Während sich Politik und Medien gegenseitig überschlagen, europäische Einigkeit gegen die russische Aggression und ihre Folgen zu demonstrieren, sind die Debatte im realen Leben kontrovers. Gern wird auf einfache Antworten zurückgegriffen, die der Komplexität des Themas nicht gerecht werden. Auch dieser Beitrag, kann nur anregen, sich mit der Vielschichtigkeit des Problems zu beschäftigen.

Die nach dem zweiten Weltkrieg entstandene Weltordnung ist zerbrochen. Alte und neue Regional- und Großmächte verletzen ungeniert das Völkerrecht und versuchen sich die günstigsten Ausgangsbedingungen für ihre Stellung im sich herauskristallisierenden System der internationalen Beziehungen zu erkämpfen. Die Menschen in der Ukraine sind eines der Opfer dieses unerbittlichen Machkampfes.

Das Wort Krieg hat in Europa plötzlich ein Gesicht bekommen: Menschen ohne Wasser und Strom in der eisigen Kälte des ukrainischen Winters. Zerstörte Städte, Infrastruktur, Betriebe. Raketenangriffe. Mord und Folter. All das gibt es in allen Kriegen auf dieser Welt. Der medial minutiös begleitete Krieg in der Ukraine bringt uns diese Realitäten plötzlich nahe. Was Europäerinnen und Europäer, was die EU seit dem 24. März 2022 eint, ist die Solidarität mit den Betroffenen in der Ukraine. Diesen Menschen zu helfen, das ist das Gebot der Stunde.

Die EU hat seit Beginn des Krieges Hunderte Millionen für humanitäre Hilfe bereitgestellt. Fast neun Milliarden Euro bekam die Ukraine 2022, um grundlegende Staatsausgaben absichern zu können. Die konkreten Zahlen findet man auf der Seite der EU Kommission[1]. 2023 wird diese Hilfe fortgesetzt. Die Zahlen klingen gewaltig. Vergleicht man sie jedoch mit dem Haushalt der Bundesrepublik – 2023 sind Ausgaben in Höhe von 476 Milliarden Euro geplant – wird die Dimension deutlicher.

Über 100 Millionen Menschen sind laut aktuellem Bericht des UNHCR auf der Flucht vor Krieg und Gewalt. Europa, das sich vor Flüchtlingen aus anderer Teilen der Welt abschottet, hat die Tür für die Menschen aus der Ukraine weit geöffnet. Die EU-Richtlinie über vorübergehenden Schutz macht es möglich: Menschen aus der Ukraine erhalten eine Aufenthaltserlaubnis, finanzielle und materielle Unterstützung sowie Zugang zu Bildung, Sozialsystemen und Arbeitsmarkt.

Die Kommissionspräsidentin, Ursula von der Leyen, erklärte in ihrer ersten Grundsatzrede, dass die EU auch „die Sprache der Macht“ lernen müsse und erklärte den Anspruch, dass die EU-Kommission unter ihrer Leitung eine geopolitische sein sollte. Der Angriffskrieg Russland auf die Ukraine ist die Feuertaufe. Was der deutsche Kanzler Olaf Scholz als Zeitenwende postulierte, spiegelt sich in der EU-Politik: Auch in der EU gehört seit dem 24. März militärisches Handeln in den Instrumentenkasten der Außenpolitik. Rund drei Milliarden Euro stellte die EU der Ukraine an Militärhilfe zur Verfügung. Hinzu kommen milliardenschweren Waffenlieferungen der EU-Mitgliedstaaten. Seit 2014 trainieren die USA, Großbritannien und Kanada ukrainische Soldaten an schweren Waffen. Nun zieht die EU mit einer ähnlichen Ausbildungsmission nach.

Auch die Anerkennung der Ukraine als Kandidat für die Aufnahme in die EU widerspiegelt den Anspruch der EU, geopolitisch eine Rolle zu spielen: Auf die Infragestellung des Existenzrechtes der Ukraine durch Präsident Putin antwortete die EU mit einem klaren politischen Bekenntnis, dass der ukrainische Staat als gleichberechtigtes Mitglied der europäischen Staatengemeinschaft in der EU willkommen ist.

Aber der Weg in die EU ist weit und viele Fragen offen: Wie wird dieser Krieg beendet werden? Der Wiederaufbau der Ukraine muss organisiert und finanziert werden. Dafür hat sich die EU ehrgeizige Ziele gesetzt. Die Ukraine muss die Aufnahmekriterien in den Bereichen Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung, Pressefreiheit, Minderheitenrechte usw. erfüllen. Davon war sie bereits vor dem Krieg weit entfernt. Die Kriegssituation hat dazu geführt, dass es gerade in diesen Bereichen eher Rückschritte als Fortschritte gibt. Bedingungen müssen geschaffen werden, damit das Land das Kriterium gutnachbarschaftlicher Beziehungen erfüllen kann…

Wer die Zukunft gestalten will, kommt an einer Analyse der Vergangenheit nicht vorbei. Wie konnte es dazu kommen, dass sich Russen und Ukrainer unversöhnlich, bereit für den Sieg des einen über den anderen zu sterben, gegenüberstehen? Dazu gibt es viele Interpretationen. Eine Antwort auf die Frage hat viele Facetten. Die Analyse sollte eine kritische Auseinandersetzung mit den geopolitischen Ambitionen der europäischen politischen Eliten und der Rolle der USA in Europa einbeziehen.

Eines Tages, ist dieser Krieg beendet. Dann sind die EU-Mitgliedstaaten, die Ukraine und alle anderen osteuropäischen Staaten immer noch Nachbarn, die sich der Herausforderung stellen müssen, in Frieden miteinander auszukommen. Dafür ein Modell zu finden, ist der Schlüssel für Frieden in Europa.

* Karin Schüttpelz ist in der Linken-Fraktion im Europäischen Parlament als Fraktionsmitarbeiterin für den außenpolitischen Ausschuss verantwortlich.

1 https://eu-solidarity-ukraine.ec.europa.eu/eu-assistance-ukraine_de