Politische Berichte Nr.06/2023 (PDF)23
Rechte Provokationen - Demokratische Antworten

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Der Nah-Ost-Konflikt in Deutschland

Christiane Schneider, Hamburg

Das unfassbar grausame Massaker der Hamas hat das Leben auch der Jüdinnen und Juden in Deutschland verändert.

Da sind der Schock über bis dahin Unvorstellbares, die Angst vor dem Verlust jeden Zufluchtsortes und oft die Trauer über den Verlust von Angehörigen oder Freunden. Aber das ist nicht alles. Viele beklagen das Versagen der Zivilgesellschaft. Der Schriftsteller Max Czollek schreibt auf Twitter von einem unter seinen jüdischen Freunden weit verbreiteten „Gefühl des Verlassenwerdens“. Der Pianist Igor Levit äußert sich in einem Interview mit dem „Tagesspiegel“ (25.11.) bitter über das „Schweigen über den Judenhass“ in einem „bankrotten Teil der progressiven Linken“. Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, kritisiert Gleichgültigkeit, Entsolidarisierung und Kälte in der Gesamtgesellschaft (NOZ, 4.11.). Anders als beim Angriff auf die Twin Tower am 11.9.2001 oder den islamistischen Attentaten in Paris 2015 habe es nach dem 7.11. keine Schweigeminuten in den Schulen gegeben oder Großkundgebungen. „Stattdessen sahen wir Demonstrationen, bei denen Sympathie für die Hamas artikuliert wurde. Die waren deutlich größer als die Solidaritätsbekundungen mit Israel.“

Der Bundesverband der Recherche- und Informationsstellen Antisemitismus e.V. (Bundesverband RIAS) meldete für den Zeitraum 7.10. bis 9.11. 994 verifizierte antisemitische Vorfälle mit Bezug auf das Massaker, durchschnittlich 29 pro Tag, ein Zuwachs von 320 % gegenüber dem Vorjahresdurchschnitt.1 Darunter befanden sich viele Fälle von (teils extremer) Gewalt, Bedrohungen, Sachbeschädigungen, verletzendem Verhalten. Jüdinnen und Juden schränkten nach dem 7. Oktober ihre Sichtbarkeit ein, verzichteten auf das Tragen jüdischer Symbole, sprachen in der Öffentlichkeit nicht hebräisch. In den ersten Tagen schickten jüdische Eltern ihre Kinder nicht zur Schule oder in die Kita, blieben einige jüdische Restaurants vorübergehend geschlossen. RIAS berichtet, dass Jüdinnen und Juden an Orten, die sie in ihrem Alltag aufsuchen, mit Antisemitismus konfrontiert sind, „vermehrt auch von Bekannten, Nachbar_innen und Arbeitskolleg_innen“. Besonders bedrohlich sind Fälle, in denen Häuser bzw. Wohnungen mit Davidstern oder Hakenkreuz markiert wurden.

Von weit rechts bis in die politische Mitte hinein werden die antisemitischen Vorfälle im Wesentlichen als Problem von Migration und als Problem der politischen Linken gedeutet. Dass es auf „pro-palästinensischen“ Demonstrationen zu inakzeptablen Ausbrüchen antisemitischen Hasses kam, dass extrem islamistische Organisationen wie Hizb ut-Tahir (für die ein Betätigungsverbot besteht) offen und aufhetzend auftraten, ist ebenso wenig zu bestreiten wie Antisemitismus in der gesellschaftlichen Linken. Die in Großstädten präsente Jugendorganisation „Young Struggle“ etwa verherrlichte den Hamas-Terror am 7.10. als legitimen „Befreiungsschlag“. An Hochschulen delegitimieren durch nicht verarbeitete postkoloniale Theorien beeinflusste junge Menschen, für die der Holocaust und die Verantwortung der Generation der Täter weit zurückliegende, unpersönliche Geschichte zu sein scheinen, aggressiv die Existenz Israels und deuten den Terror der Hamas zum „Befreiungskampf“ um.2 Dagegen bleiben weithin alltäglicher Antisemitismus in der Mehrheitsgesellschaft und nicht zuletzt die Rolle der Rechten weithin unbeachtet. Die Amadeu Antonio Stiftung weist darauf hin, dass die extreme Rechte verstärkt an einem „erinnerungspolitischen Klimawandel“ arbeitet, der sich seit Monaten vor allem in zunehmenden Angriffen auf Stätten der Erinnerungskultur äußert. In Buchenwald etwa wurden zuletzt wöchentlich Hakenkreuzschmierereien entdeckt. Aktuell würden immer wieder mit Schmierereien und anderen Sachbeschädigungen der Terror der Hamas mit Angriffen auf die Erinnerung verknüpft.3

Nicht nur die jüdische Community sieht sich alleingelassen in ihrem Schmerz, auch die in Deutschland lebenden ca. 200 000 Palästinenserinnen und Palästinenser, die vielfach den Verlust von Familienmitgliedern betrauern. In einem Interview beklagt die Deutsch-Palästinenserin Jouanna Hassoun, Trägerin des Berliner Landesverdienstordens, dass sich viele in ihrer Trauer nicht gesehen fühlen. Als ob es bedeute, dass man die andere Seite nicht sehe, wenn man um die zivilen palästinensischen Opfer trauert.4

Die Debatte um „pro-palästinensische“ Demonstrationen – wobei „pro-palästinensische“ oft als Synonym für antisemitisch steht – und der polizeiliche Umgang damit nehmen zum Teil erschreckende Dimensionen an. In Hamburg etwa hat die der Polizei eingegliederten Versammlungsbehörde eine am 15.10. erstmals erlassene Allgemeinverfügung bis zur Fertigstellung dieses Artikels zwölfmal verlängert. Mit der Formulierung, dass „alle nicht angemeldeten und nicht behördlich bestätigten Versammlungen“ verboten seien, suggeriert die Polizei, dass „pro-palästinensische“ Demonstrationen grundsätzlich genehmigungspflichtig seien – die Versammlungsfreiheit also für sie nicht gilt. Unter Juristen ist ein Demonstrationsverbot bei Gefahr antisemitischer Handlungen und Äußerungen umstritten.5 Doch eine so weitreichende Einschränkung der Versammlungsfreiheit, wie (nicht nur) Hamburg sie praktiziert, bedeutet die Aushöhlung des Versammlungsrechts.

Die einst liberale Ex-Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger, FDP, forderte in krasser Missachtung der Rechtslage ein Demonstrationsverbot für Nichtdeutsche. CDU-Politiker wollen Doppelstaatlern bei antisemitischen Straftaten die deutsche Staatsangehörigkeit entziehen.

Die Auseinandersetzung wird immer stärker rassistisch aufgeheizt. Der Junge-Union-Vorsitzende warnt vor „Kipppunkten“, fordert zum „Kampf auf der Straße“ und zur „Auflösung der Parallelgesellschaften“ auf.6 Merz sieht die „Politik einer multikulturellen Gesellschaft“ gescheitert.7 Antimuslimische Vorfälle nehmen zu.8

All das spielt der AfD in die Hände, deren erklärtes Ziel die „Rückführung der nicht integrierbaren Migranten“ (Höcke) ist. Ihre behauptete Unterstützung für Israel ist heuchlerisch. Das insbesondere Höcke & Co. nahestehende „Institut für Staatspolitik“ ließ ein Trommelfeuer los gegen „Fremdnationalisten“, gemeint Menschen, die sich solidarisch mit Israel zeigen. Der Flügelmann Tillschneider kritisierte Israel – man dürfe „nicht das ganze Volk in die Mithaftung nehmen für die Taten einiger weniger“ – in der Absicht, das, was die extreme Rechte „Schuldkult“ nennt, zu delegitimieren: die historische Verantwortung Deutschlands.

(1) https://www.report-antisemitism.de/bundesverband-rias/ (2) Siehe z.B.: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/antisemitismus-an-der-universitaet-der-kuenste-in-berlin-19343147.html (3) https://www.amadeu-antonio-stiftung.de/zivilgesellschaftliches-lagebild-antisemitismus-12-jede-art-von-antisemitismus-in-diesem-land-bringt-auch-einen-ruf-nach-einem-schlussstrich-mit-sich-106689/ (4) Monitor, 3.11. (5) Siehe https://verfassungsblog.de/antisemitismus-eine-gefahr/ und https://verfassungsblog.de/pro-palastina-als-unmittelbare-gefahr/ (6) Bild, 6.11.23 (7) https://www.cdu.de/artikel/es-geht-um-mehr-als-allein-um-irregulaere-migration (8) https://www.br.de/radio/bayern2/sendungen/zuendfunk/krieg-in-israel-und-gaza-antimuslimischer-rassismus-in-deutschland-100.html